Kritik zu Les Sauteurs – Those Who Jump
Die Regisseure Moritz Siebert und Estephan Wagner übergeben einem Flüchtenden eine Kamera und dokumentieren so mit ihm als Filmemacher und Protagonisten die Situation an einem der heißen Grenzpunkte zwischen Europa und Afrika
»Den Zoom nicht anfassen«, reicht Abou Bakar Sidibé zu Beginn des Films samt Camcorder eine Regieanweisung an einen Gefährten auf dem Mount Gurugú weiter, der ihn filmen möchte. Jemand habe ihm die Kamera gegeben, um das Leben hier in den Wäldern oberhalb der Grenzzäune vor der auf dem afrikanischen Kontinent gelegenen spanischen Exklave Melilla zu dokumentieren, dazu Geld, damit er das Gerät nicht bei der ersten Gelegenheit verkaufe.
Sichtbarkeit herzustellen ist eine komplizierte Angelegenheit. Sie ist, wie diese kurze Szene zeigt, geknüpft an Austausch – von Technologie und Anleitung, von Geld und Vertrauen. Und in »Les Sauteurs« wird dieser Austausch auf besonders schlüssige Weise anschaulich. Die Filmemacher Moritz Siebert und Estephan Wagner haben in der Zusammenarbeit mit dem aus Mali gekommenen Bakar Sidibé eine hybride Regieperspektive geschaffen, die maximal involvierte Fluchtbilder in einen künstlerischen Dokumentarfilm europäischer Prägung einrahmt.
Die hier zu Anschauung und schmerzhafter Erfahrung gebrachte Etappe zwischen Melilla und Marokko war schon lange vor der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 ein Sinnbild des Scheiterns europäischer Grenzpolitik. Sukzessive erfassen Sidibés Aufnahmen die Lage. Unter freiem Himmel campieren mehrere Dutzend Geflüchtete aus dem subsaharischen Raum. Die Situation ist objektiv desolat, trotzdem wirkt die Stimmung vorsichtig optimistisch. Während sie, teils wochenlang, auf eine Gelegenheit warten, die Grenzzäune zu überwinden wie Odysseus und seine Gefährten auf günstige Winde, kümmern sie sich um Wasser, Nahrung, Soziales. Immer wenn sich im Dunst der Morgendämmerung der Tross in Richtung der Anlagen aufmacht, die den Geflüchteten den Zugang nach Europa verwehren sollen, greift der Film auf Überwachungsbilder der spanischen Grenzpolizei zurück. In ihrer stummen Automatizität bilden sie einen gespenstischen Kontrast zur lebendigen Ich-Erzählung des Protagonisten/Regisseurs. Das organisierte Gegeneinander der Interessen wird so als ein Widerspiel zweier vollkommen disparater Blicksysteme deutlich. Mal um Mal wird man Zeuge, wie die, die springen, ihr Leben in den Zwischenräumen der Zäune aufs Spiel setzen; wie die, die auf den Hügel zurückkehren, die Verletzten versorgen und Nachricht von jenen geben, die ihr Leben verloren, und doch schon den nächsten Übertrittsversuch vor Augen haben, um mit dem Erreichen der anderen Seite dieser nicht anders als grausam zu nennenden, sich im Verlauf des Films durch Heimsuchungen, Verrat und schiere Not weiter verschärfenden Konfrontation zu entkommen.
In der Nacht einer dieser schlimmen Phasen der gefühlten Ausweglosigkeit setzt sich Bakar Sidibé schließlich über das Gebot hinweg, den Zoom nicht zu verwenden und holt die glimmenden Lichter der verbotenen Stadt mit der Kamera ganz nah zu sich heran. Das zu diesem symbolischen Übertritt eingesprochene Voice-over greift gleichsam auf ein vorläufiges Happy End für den damit endgültig zum Koautor seiner Fluchterzählung Gewordenen vor.
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