Kritik zu Agnes
Was passiert, wenn wir uns ein Bild von der oder dem Geliebten machen? In seiner Verfilmung von Peter Stamms gleichnamigem Debütroman lässt Johannes Schmid zusammen mit Stephan Kampwirth und Odine Johne Realität und Fiktion einer Liebe oszillieren
»Du könntest über mich schreiben«, schlägt die Physikstudentin Agnes dem Sachbuchautor Walter vor, ohne zu ahnen, was für einen teuflischen Mechanismus sie damit in Gang setzt: Was passiert mit der Liebe, wenn man über sie schreibt? Wenn man sie schon dokumentiert, während man sie noch lebt? Ja, wenn man Eingriffe in die Wirklichkeit vornimmt, sie nach eigenen Vorstellungen und Wünschen verändert und manipuliert? Dieses Gedankenspiel breitete der Schweizer Autor Peter Stamm in seinem bereits 1998 veröffentlichten Debütroman aus. Festgemacht am Verlauf einer Liebesgeschichte, fragte er, was die Bilder, die wir uns voneinander machen, mit uns anstellen, womit sich auch schon eine besondere Affinität zum Kino eröffnet.
Das tückisch fragile Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion im literarischen Schöpfungsprozess wurde im Kino schon oft ausgelotet, zuletzt etwa in der tragisch gefärbten Komödie »Ruby Sparks«. Damals stand die Romanheldin des unter Schreibblockade leidenden Autors eines Tages ganz leibhaftig, für alle sichtbar in seinem Leben und strahlte mit ihrer kapriziösen Quirligkeit eine ansteckende Lebensfreude aus. Im Kontrast dazu schlägt Johannes Schmids Verfilmung von Stamms Roman von vornherein einen sehr viel ernsteren Tonfall an, eingehüllt in die melancholischen Kompositionen der schwedischen Singer-Songwriterin Anna Ternheim.
Zum ersten Mal fällt Walter (Stephan Kampwirth) die junge Frau (Odine Johne) in einer Düsseldorfer Bibliothek auf, wo er für ein Sachbuch recherchiert. Agnes wirkt spröde und sperrig, und gerade darum anziehend und geheimnisvoll auf ihn. Als er sie später in der U-Bahn anspricht, konfrontiert sie ihn mit brüsken Feststellungen und Reaktionen. »Was ist, wenn man stirbt, bevor man müde ist? Hast du darüber schon mal nachgedacht?«, blafft sie ihn an, als er in ihren Augen zu indifferent auf den Anblick einer jungen Frau reagiert, die auf dem Trottoir tot zusammengebrochen ist. Als er dann tatsächlich beginnt, über ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, hakt sie immer wieder nach, ob er dieses oder jenes wirklich so empfunden oder gemeint habe. Wenn die literarische Agnes gefragt wird, ob sie zu ihm ziehen wolle, will die echte Agnes wissen, ob er das wirklich meine. Ihre enigmatische Unnahbarkeit macht sie zur perfekten Projektionsfläche, nur leider beginnt sie sich zu wehren. Wenn er sich künstlerische Freiheiten nimmt, fordert sie Wirklichkeitstreue, so ähnlich wie die realen Menschen von den Schauspielern in dem ausufernd autobiografischen Theaterprojekt, das Philip Seymour Hoffman in Charlie Kaufmanns »Synecdoche New York« inszenierte. »Sie sah mich dankbar an«, schreibt er. »Du spinnst wohl«, ereifert sie sich, »es stimmt nicht«, und moniert dann: »Es muss stimmen!« Schleichend beginnt die Fiktion, ihren Tribut zu fordern, immer größer wird der Einfluss der geschriebenen Worte auf das gelebte Leben, so als würde Walter das Drehbuch für den Film seines Lebens verfassen.
Realität und Fiktion, Beobachtung und Interpretation beginnen zu changieren. Kaum merklich unterscheiden sich die beiden Welten in Lichtgebung und Farbspiel, Kostümen und Frisuren, so dass man auch als Zuschauer immer wieder auf die literarische Fantasie hereinfällt. Mal virtuos, mal augenzwinkernd spielt der Regisseur die Möglichkeiten des Kinos aus. Wenn Walter beispielsweise eine Passage, mit der Agnes unzufrieden war, löscht, läuft der Film rückwärts. Im Kino sind Walters Vorstellungen ganz real zu sehen, weshalb sich irgendwann die Frage stellt, ob es diese Agnes überhaupt gibt. »Das Glück macht keine gute Geschichte«, konstatiert der Autor einmal, und es wirkt fast wie Trotz, als Agnes kurz darauf schwanger wird. Die Fiktion verselbstständigt sich und wird zur Kritik des Lebens, während die Wirklichkeit bald immer tragischere Züge annimmt.
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