Nachruf: Wolfgang Becker
22.06.1954 – 12.12.2024
Ganz großes Theater: eine perfekte Illusion der DDR, um der Mutter (Katrin Sass), die den Mauerfall verschlafen hat und nach acht Monaten Koma überraschend aufwachte, eine potentiell tödliche Aufregung zu ersparen. Inmitten des ganzen Aufruhrs, den die Wende verursacht hat, meistert Alex Kerner (Daniel Brühl) mit seiner Schwester, ein paar Freunden und Genossen das Kunststück, eine 79 Quadratmeter große DDR-Blase originalgetreu wieder herzustellen. Ein tragikomischer Drahtseilakt, zugleich luftig aberwitzig und geerdet wahrhaftig. So gelang es Wolfgang Becker, nach einer ziemlich genialen Idee von Bernd Lichtenberg, der DDR 14 Jahre nach dem Mauerfall eine Reverenz zu erweisen. Beckers zärtlicher Blick implizierte die Frage, warum dieses Land auch von seinen Bürgern so schnell und schnöde abgewickelt wurde, dass komplette Hausstände in Windeseile auf den Straßen landeten und banale Alltagswaren binnen kürzester Zeit Vintage-Status erlangten.
In »Good Bye, Lenin!« kulminierte alles, was das Werk von Wolfgang Becker ausmacht: Ein großes Herz für gebrochene, manchmal auch ein bisschen klägliche Alltagshelden. Eine Vorliebe für Lügner und Schwindler, die die Wirklichkeit manipulieren und sich in den eigenen Konstrukten verheddern. Und ein Augenmerk für kleinste Details im Spiel, im Timing, in der Ausstattung, die bei aller künstlerischen Überhöhung vor allem auf innere Wahrhaftigkeit zielten. Akribisch tüftelte Becker an den Schauplätzen, lebte auch mal tagelang im Studio, bis alles so arrangiert war, dass es sich anfühlte, wie von echten Menschen bewohnt. Genauso wahrhaftig fing er aber auch die Realität auf den Straßen Berlins Ende der Neunzigerjahre ein, abseits der Postkarten-Klischees der Mauerstadt, dort wo sich reale Lebens- und Liebesgeschichten einnisten: in »Das Leben ist eine Baustelle«, dem Film, der 1997 seinen Durchbruch markierte.
Dann der internationale Erfolg:»Good Bye, Lenin!« war mit sechs Millionen Zuschauern der erfolgreichste deutsche Film des Jahres 2003, lief in 64 Ländern, wurde als bester europäischer Film ausgezeichnet, dazu mit dem französischen César, dem spanischen Goya und vielen weiteren Preisen fürs Drehbuch und die Schauspieler.
Geboren wurde Wolfgang Becker 1954 in Hemer, einer Kleinstadt im nördlichen Sauerland. Nach dem Abitur ging er nach Berlin, studierte an der FU zuerst Germanistik, Geschichte und Amerikanistik, später an der Berliner Filmschule DFFB Kamera. Assistent bei Michael Ballhaus und Istvan Szabó war er, bevor er fast zufällig, von anderen angestiftet, zur Regie wechselte. »Ich kann alleine keine Drehbücher schreiben,«, sagte er »bin also auf einen Autor angewiesen, und den zu finden ist nicht so leicht. So eine Zusammenarbeit ist wie eine Ehe auf Zeit.«
Monatelang feilte er mit an den oft auf literarischen Vorlagen basierenden Drehbüchern, gab keine Ruhe, bis Ausstattung und Kostüm stimmten, blieb beim Dreh an den Schauspielern, bis er ihnen 100prozentig glaubte, was sie sagten und taten, und führte sie damit zu vielen Preisen, suchte monatelang im Schneideraum nach dem richtigen Rhythmus. In der DVD-Sonder-Edition von »Good Bye, Lenin!«, die ein Jahr nach der Berlinale-Premiere herauskam, kann man als fly on the wall dabei sein, wie er am Schneidetisch mit dem X-Filme-Kollegen Tom Tykwer Für und Wider einzelner gestrichener Szenen diskutiert. Im Quartett mit Dani Levy und Stefan Arndt hatten die beiden 1994 die Firma gegründet, um nach dem Vorbild der amerikanischen United Artists unmittelbarer und schneller produzieren zu können, als es die deutsche Förderbürokratie zuließ. »Das Leben ist eine Baustelle« war der erste einer Serie von Erfolgsfilmen, und als die Senator-Pleite 2004 beinahe auch X-Filme mit in den Abgrund gerissen hätte, während Dani Levy und Tom Tykwer in konkreten Filmprojekten steckten, fuchste er sich ins Insolvenzrecht ein und kümmerte sich fast drei Jahre um die Rettung der Firma.
Die Pausen zwischen den Filmen waren daher oft sehr lang, sechs Jahre zwischen »Das Leben ist eine Baustelle« und »Good Bye, Lenin!« und weitere zwölf bis zur Daniel Kehlmann-Verfilmung »Ich und Kaminski«, gegen die sich die Förderer sträubten, weil es in der Posse um einen ehrgeizig eitlen Kritiker und einen senil gebrechlichen Künstler keinen strahlenden Helden gab. So ist ein schmales Werk mit substanziellen Filmen entstanden. Beckers frühe Arbeiten waren noch bittere Sozialdramen in der Tradition britischer kitchen sink-Filme, mit viel Sympathie für Opfer, die Täter werden. 1988 entstand der einstündige, gleich mit dem Studenten-Oscar geadelte Abschlussfilm »Schmetterlinge« nach einer Kurzgeschichte von Ian McEwan, die Becker von Sheffield an die Orte seiner eigenen schwierigen Kindheit in einfachen, lieblosen Verhältnissen im Ruhrgebiet verlegte. Auch 1992 in »Kinderspiele«, der Geschichte des elfjährigen Arbeiterjungen Micha, der die erlittenen Erfahrungen als Bully weitergibt, war das Mosaik subtiler Beobachtungen am trostlosen Stadtrand im Deutschland der Mittsechzigerjahre von eigenen Erfahrungen inspiriert. So stark war das Fernsehspiel, dass es sogar ins Kino kam.
Ein Bär von einem Mann war Wolfgang Becker, der viele überragte und mit seiner tiefen Bassstimme auch als Schauspieler immer wieder einen besonderen Ton für eher unsympathische Charaktere fand, in kleinen Rollen, als Fleischhof-Leiter im eigenen Film, als KZ-Kommandant in Dani Levys »Mein Führer« oder noch vor kurzem als Immobilienhai in »Alfons Zitterbacke – Endlich Klassenfahrt«. Einfach so, zwischendurch einen Film drehen, fürs Fernsehen, um Geld zu verdienen – das kam für Becker nicht in Frage. Es mussten schon Herzensprojekte sein, denen er sich dann mit einer fast schon sturen Sorgfalt verschrieb: »Viele Regisseure drehen, um die Zeit zu füllen, in der Übung zu bleiben und Geld zu verdienen«, sagte er. »Ich versuche stets, Filme zu finden, die ich hundertprozentig vertreten kann.«
Posthum beschrieb Daniel Brühl in einem in der SZ veröffentlichten Brief an den Regisseur, der seine Karriere nachhaltig prägte, Beckers Eigenschaften mit den Worten: »Dein Fieber, dein unbedingter Wille, den Dingen auf den Grund zu gehen, deine Furchtlosigkeit im Erzählen, keine Angst vor lauten, grellen Tönen, sich trauen, populär zu sein und auf Arthouse-Etikette zu pfeifen…« Umgekehrt schätzte Becker an Brühl, dass er einer fragwürdigen Figur wie dem eitlen, übergriffigen Kulturjournalisten in »Ich und Kaminski« jene glaubwürdige Sympathie mitgab, die solche Antihelden brauchen, damit sich das Publikum nicht abwendet. In Beckers letztem Film, »Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße« nach Maxim Leo, übernahm Charly Hübner diesen Part des kleinen Mannes, der sich 30 Jahre nach der Wende in ein Konstrukt aus Halbwahrheiten und Lügen verstrickt. Immerhin fertigdrehen konnte Becker den Film noch, bevor er am 12.12.2024 nach schwerer Krankheit überraschend schnell gestorben ist.
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