Kritik zu Man on Wire – Der Drahtseilakt
James Marsh rekonstruiert in seinem Dokumentarfilm minutiös, wie Hochseilartist Philippe Petit sich 1974 zwischen den Türmen des World Trade Centers seinen Lebenstraum erfüllte zwischen den beiden Türmen des World Trade Centers spazierte, ist das bewegende Dokument eines Künstlers, der seine Träume konsequent zu realisieren versuchte
In den Morgenstunden des 7. August 1974 wurden die New Yorker Augenzeugen einer spektakulären Showeinlage. Ein Mann spazierte hoch über der Stadt auf einem Stahlseil zwischen den beiden Türmen des gerade fertiggestellten World Trade Centers. Als er nach 45 Minuten wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wurden der Seiltänzer und seine Komplizen bereits von der Polizei in Empfang genommen. New York aber hatte einen neuen Helden. Die Bilder von Philippe Petit gingen um die Welt.
Petit kommt in James Marshs Dokumentation »Man on Wire«, die den Verlauf der Ereignisse und die Entstehung der eigenwilligen Idee beschreibt, ausgiebig zu Wort. In einer Zahnarztpraxis, erzählt Petit, habe er einen Artikel über das aufwendige Bauvorhaben gelesen und im selben Augenblick eine Vision gehabt. Er sei sofort mit einem Ausriss des Artikels (und Zahnschmerzen) nach Hause gegangen – aber was ist schon ein wenig Schmerz im Vergleich zu dieser beinah religiösen Eingebung? So redet Petit, und er meint es ernst. Der Hochseilakt war für den französischen Artisten mehr als nur eine Performance; im Interview beschreibt er sein Unterfangen als eine transzendentale Erfahrung.
Und hört man ihm und seinen Mitstreitern zu und sieht dann, wie ihnen die Erinnerungen an den überwältigenden Anblick des schwerelos zwischen den zwei Türmen hängenden Petits die Tränen in die Augen treiben, beginnt man das Pathos und den Antrieb dieses komischen Franzosen, der mit Händen und Füßen von seiner Aktion erzählt, etwas besser zu verstehen. Petit mag ein Traumtänzer sein, aber er ist auch eine Art Magier, der die Menschen in seinen Bann zu reißen liebt. Ein, um einen Begriff des Hippie-Situationisten Hakim Bey aufzugreifen, »poetischer Terrorist«. Gleichzeitig hat Petit mit seiner Intervention aber auch das Verhältnis von Individuum und öffentlichem Raum infrage gestellt. So wird »Man on Wire« nicht zuletzt zum Dokument einer vergleichsweise unschuldigen Ära, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 endgültig der Vergangenheit angehört.
Denn dass Petit lediglich mit einem Klapps auf die Finger und der Auflage einer Gratisaufführung für Schulklassen davonkam, ist mittlerweile ziemlich unvorstellbar. Eher würde er heutzutage mit seiner Verletzung des amerikanischen Luftraums wohl die Härten des »Patriot Acts« zu spüren bekommen. Diesen zeithistorischen Aspekt klammert »Man on Wire« aus (ebenso wie Marsh sich jegliche Anspielung auf 9/11 verkneift). So bleiben Aspekte der seltsamen Liebesbeziehung zwischen Petit und den Twin Towers, genauso wie die anfängliche Hassliebe der New Yorker zu ihren Türmen, die Petits Aktion und die öffentliche Reaktion greifbarer machen könnten, etwas unterbelichtet. Umso mehr wird das Bild des Narzissten Petit bestärkt. »Warum haben Sie das getan«, war die erste Frage der Reporter nach seinem Abstieg. »Wie können Sie solch eine banale Frage stellen«, schüttelt Petit im Film den Kopf, »nachdem ich Ihnen ein kleines Wunder gezeigt habe?«
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