Nachruf: Norman Jewison

Der Blick des Spielers
Norman Jewison. Foto: Canadian Film Centre / Mark Sullivan (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Norman_Jewison_CFC_in_LA_37.jpg), „Norman Jewison CFC in LA 37“, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode

Foto: Canadian Film Centre / Mark Sullivan (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Norman_Jewison_CFC_in_LA_37.jpg), „Norman Jewison CFC in LA 37“, https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode

21.7.1926 – 20.1.2024

Seinen ersten Kampf gegen einen Produzenten gewann er, als er durchsetzte, dass er »Cincinnati Kid« an Originalschauplätzen in New Orleans drehen konnte. Der Film profitierte enorm vom Flair der Drehorte. Er zeigte zugleich, welch genaues Gespür Norman Jewison für die Details des Alltags besaß, in denen sich die Wertvorstellungen und Konflikte eines Gemeinwesens manifestieren. 

Die Südstaaten der USA kannte der gebürtige Kanadier ohnehin gut, seit er sie mit 17 Jahren per Anhalter erkundet hatte. Deshalb stand für ihn auch fest, dass er »In der Hitze der Nacht« unterhalb der Mason-Dixon-Linie drehen musste. Von der ersten Einstellung an, in der eine Fliege träge über einen Kalender krabbelt, taucht er tief in die schwüle Atmosphäre der Kleinstadt Sparta ein. Sein Hauptdarsteller Sidney Poitier schlief mit einem Revolver unter dem Kopfkissen, denn ein selbstbewusster Schwarzer war 1967 im tiefen Süden nicht wohlgelitten. 

Der Schauplatzrealismus wurde fortan ein Markenzeichen des Regisseurs. »Thomas Crown ist nicht zu fassen« drehte er in Boston, »Jesus Christ Superstar« in Israel und »Anatevka« in Osteuropa; die Dystopie »Rollerball« entstand in München. Das Streben nach Authentizität und das Mandat sozialer Dringlichkeit teilte er mit Regisseuren wie John Frankenheimer, Sidney Lumet und Arthur Penn, die wie er beim Livefernsehen begonnen hatten. Mit Lumet war er eng befreundet: ein Humanist mit Resthoffnung und ein Optimist, in dessen Filmen fast immer eine Beerdigung oder ein Friedhof vorkamen. 

Seine Filmkarriere fing Jewison entspannter an als seine Vorgänger: Erste Erfolge feierte er mit Doris-Day-Komödien, die ein wenig frischer wirkten als der Rest. Fortan war er ein Mann für alle Genres, drehte hysterische Satiren (»Die Russen kommen! Die Russen kommen!«, ». . . und Gerechtigkeit für alle«) und epische Musicals, adaptierte Bühnendramen (Agnes – Engel im Feuer) und bescherte der romantischen Komödie mit Mondsüchtig eine Glanzstunde. Nur der Western und Horrorfilm lockten ihn nicht. Zwei Themen lagen ihm besonders am Herzen: der Kampf gegen den Rassismus, dem er mit »In der Hitze der Nacht«, »Sergeant Waters – Eine Soldatengeschichte« sowie »The Hurricane« eine Trilogie widmete, und für soziale Gerechtigkeit (»F.I.S.T. – Ein Mann geht seinen Weg«). Sein Blick auf die US-Gesellschaft war distanziert und wachsam; die Rettung für den unschuldig inhaftierten Boxer »Hurricane Carter« kommt aus seiner kanadischen Heimat. Jewison war ein engagierter Geschichtenerzähler, oft wurde der politische Resonanzraum seiner Filme indes durch manichäische Drehbücher eingehegt. 

Seine Filme hatten Stil und waren in den ersten Jahrzehnten ästhetisch auf der Höhe der Zeit. Aber verrieten sie auch eine persönliche Handschrift? Ein Auteur war Jewison mitnichten, wohl aber ein einfühlsamer, fantasievoller Schauspielerregisseur und ein wunderbar inspirierter Handwerker, der sich mit Talenten umgab, die ebenso experimentierfreudig waren wie er. Unermüdlich suchte er erzählerische Herausforderungen. In »Cincinnati Kid« etwa ist es die Frage, wie man eine Pokerpartie filmt, damit sie das Publikum wirklich in den Bann zieht. Indem man sich auf die Blicke der Spieler konzentriert und die kräftigen Primärfarben auf die Karten beschränkt! In »Thomas Crown ist nicht zu fassen« setzte er die Multi-Leinwand-Technik ein, die er im Jahr zuvor auf der Weltausstellung in Montreal entdeckt hatte. Sie ermöglichte es ihm, verschiedene Situationen oder Perspektiven zur gleichen Zeit zu zeigen. Er wählte ungekannte Blickwinkel – beim Bankraub folgt die Kamera einer brennenden Fackel blitzschnell auf einem Skateboard. Es wundert nicht, dass dieser Film sein Meisterstück ist, denn er handelt vom Triumph des Stils über den Inhalt. 

Er verstand sich auf die Kurzschrift des Kinos. Dazu gehörte nicht zuletzt der Einsatz der Musik, den er schon im Fernsehen in Shows mit Judy Garland und Harry Belafonte gelernt hatte. Jewisons Filme klingen lebendiger als die seiner Zeitgenossen. Das fängt mit den Songs an, die Burt Bacharach, Lalo Schifrin und Michel Legrand für ihn komponierten. Seine Musicals mögen veralten (in »Anatevka« entkommt er der Folklore erst am Ende, als er die Vertreibung der jüdischen Familien in beklemmend entsättigten Farben filmt), aber den Science-Fiction-Thriller »Rollerball« mit klassischer Musik zu unterlegen, ist eine schlicht geniale Strategie: Popmusik, die rasch aus der Mode kommt, hätte den Film in einer Zeitkapsel eingeschlossen. In Mondsüchtig dagegen erzählen Songs die Geschichte maßgeblich mit. Wenn Dean Martins »That's amore« oder Vikki Carrs »It Must Be Him« erklingen, erfährt man augenblicklich, was in den Figuren vor sich geht. Manchmal war auch Jewisons Nostalgie auf der Höhe der Zeit.

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