35. International Documentary Festival Amsterdam
»All You See« (2022)
Zum 35. Mal: das International Documentary Festival Amsterdam, das größte Dokumentarfilmfestival der Welt
Dass Politik auch dieses Mal beim Festival eine große Rolle spielen würde, war ausgemachte Sache. Nicht nur angesichts der gegenwärtigen Weltlage, die in diesem Jahr letztlich jeder Großveranstaltung abverlangt, irgendwie Bezug zu nehmen auf das Grauen der Realität. Sondern natürlich auch weil sich Dokumentarfilme mit ihrer Nähe zum Journalismus schon immer besonders dazu eigneten, echte Konflikte und Krisen für das Publikum aufzubereiten. Und das ganz besonders an einem Ort, der sich – wie es auf der Homepage heißt – Filmen verpflichtet sieht, die auf »Information und Reflexion« setzen und für mehr »Demokratie, Offenheit und Menschlichkeit« sorgen sollen.
Der diesjährige Festivalauftakt war in dieser Hinsicht besonders gelungen. Zur Eröffnung lief »All You See«, der erste Langfilm der niederländischen Regisseurin Niki Padidar, die als Siebenjährige mit ihrer Familie die iranische Heimat verlassen musste. Sie erzählt darin, teils in stilisierten Erinnerungspassagen, teils in schlichten Interviewsequenzen, von einer seit 27 Jahren in den Niederlanden lebenden Somalierin, zwei Mädchen, die Willkommensklassen besuchen und noch dabei sind, die Sprache zu lernen, und nicht zuletzt von sich selbst. Herausgekommen ist ein bewegender Film übers Fremdsein und Ankommen, übers Angeguckt-aber-nicht-gesehen-Werden und über den Umgang mit der eigenen Herkunft. Wie effektiv Padidars enorm persönlicher, vermeintlich simpler Ansatz ist, der für Trauer und Wut genauso Raum lässt wie für Humor, realisiert man nicht auf Anhieb. Doch selbst Tage später wirkt »All You See« (mit Filmmusik von Fink) noch nach.
Auch Padidars flammende Rede, die sie auf der Bühne des Theater Carré am Amstel-Ufer nach der Weltpremiere hielt, hatte es in sich, fand sie doch deutliche Worte, um ihre Solidarität mit den Protestierenden im Iran zu bekunden, an die zahlreichen jungen Opfer zu erinnern und das herrschende Regime zu verurteilen. Auch anderswo war die Lage im Iran natürlich Thema, etwa beim ausführlichen Master Talk mit Venedig-Gewinnerin Laura Poitras, die als IDFA-Ehrengast geladen war und nicht zuletzt an Jafar Panahi und weitere dort inhaftierte Kollegen erinnerte. Was gerade im Zwiegespräch mit Festivalleiter und Filmemacher Orwa Nyrabia, der vor zehn Jahren in seiner syrischen Heimat ebenfalls verhaftet worden war, besonders nachhallte. Zumal nur wenige Stunden später bekannt wurde, dass den iranischen Geschwistern Farnaz und Mohammad Reza Joorabchian die Ausreise zur Weltpremiere ihres Films »Silent House« über ein Einfamilienhaus in Teheran verweigert wurde.
Auf der Leinwand überzeugte nicht jeder Umgang mit der Politik. Im internationalen Wettbewerb etwa gelang es dem französischen Regisseur Alain Kassanda bei seinem Langfilmdebüt »Colette and Justin« nur teilweise, die postkolonialistische Geschichte seines Geburtslandes Kongo mit Gesprächen und Erinnerungen seiner Großeltern zu einem stimmigen Ganzen zu vereinen, das nicht zu sehr an eine Schulstunde erinnert.
Derweil zeigte sich mal wieder, dass ähnlich wie bei Spiel- auch bei Dokumentarfilmen das Gelingen von der Ausstrahlung und der Wirkung der Protagonisten abhängt. »Much Ado About Dying« von Simon Chambers gelang in dieser Hinsicht ein Glücksgriff. Wie Chambers den letzten Lebensabschnitt seines zusehends verwahrlosten Onkels nicht nur mit der Kamera begleitet, ist filmisch manchmal etwas unbeholfen – aber an diesem eigensinnig-lebensfrohen Alten, der früher Lehrer und Schauspieler war und noch auf dem Sterbebett Hot Chocolates »You Sexy Thing« zitiert, kann man sich kaum sattsehen. Gleiches gilt für die spannende Titelheldin in »Apolonia, Apolonia« der dänischen Regisseurin Lea Glob, die ab 2009 die französische Künstlerin Apolonia Sokol 13 Jahre lang dabei beobachtete, wie sie ihren Bohemien-Alltag als Spross alternativer Theatermacher regelt und versucht, sich selbst einen Platz in der Kunstwelt zu erarbeiten.
An solchen oft mindestens so persönlichen wie politischen Höhepunkten war das IDFA in diesem Jahr alles andere als arm. Die Frage, ob denen in einem rund 250 Titel umfassenden Programm (darunter zahlreiche schon anderswo ausführlich gefeierte Titel wie »All That Breathes, Nothing Compares« oder »The Super 8 Years«) allerdings wirklich genug Aufmerksamkeit entgegengebracht werden kann, sollte für die Zukunft vielleicht mal gestellt werden.
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