Rhodopen Dokfilmfestival – Ausgegrenzt
»My Gipsy Road«
Sofia erlebte 2020 heftige Massenproteste gegen den bulgarischen Autokraten Boris Borissow, der das Land im Schatten der EU zu einer Hochburg der Korruption und Geldwäsche machte. Im November stehen die (dritten) Neuwahlen an. Ein Stimmungsbild von zwei Festivals
Die Publikumsversion des Filmfestivals in Sofia (nach dem digital organisierten Wettbewerb im März) spiegelte die angespannte Stimmung. Nahe dem monumentalen Kulturpalast wurde z. B. die bulgarische Premiere von »Women do cry« begeistert beklatscht, eine mit wildem feministischem Drive improvisierte Familiengroteske der in London lebenden Regisseurinnen Mina Mileva und Vesela Kazakova, die es im Mai beim Filmfestival von Cannes in die Sektion Un Certain Regard geschafft hatten. Ihr bitterkomisches Pamphlet brachte die lange unterdrückte Gefühlslage auf den Punkt. Mit drei Schwestern, ihrer Mutter und ihrer Tante surft der Film durch einen schrillen Mix charakteristischer Repressionserfahrungen im patriarchalen Bulgarien, darunter häusliche Gewalt, fetischisierte Mutterbilder, Lesbenfeindlichkeit und eine tief verankerte Rape Culture. Maria Bakalova, bulgarischer Nachwuchsstar, bei uns bekannt aus »Borat 2«, spielt ein Mädchen, das von seinem verheirateten Lover mit HIV infiziert wurde, verzweifelt in die Esoterik und selbst ins archaische Ritual bulgarischer Feuerläuferinnen stürzt, schließlich aber in ihrer Familie Empowerment erfährt.
In Kooperation mit dem Goethe-Institut Sofia zeigte Andres Veiel beim Festival u. a. seinen Film »Ökozid« (2020). Das im Jahr 2034 situierte »Möglichkeits«-Tribunal, in dem Deutschland wegen seiner nachweislich rücksichtslosen Umweltpolitik in der Merkel-Ära wegen der dadurch verantworteten Folgeschäden zu milliardenschweren Strafzahlungen an asiatische und afrikanische Länder verurteilt wird, traf im Gespräch mit Andres Veiel auf zwiespältige Reaktionen. Nach wie vor gilt Deutschland für bulgarische NGO-Aktivist:innen als Vorbild für Umweltstandards, die die Oligarchen des EU-Mitglieds Bulgarien bislang ungestraft missachten.
Mit einer Masterclass von Andres Veiel kooperierte das Goethe-Institut Sofia mit RIFE, einem nach langer Pause wiederbelebten Dokumentarfilm-festival in den kulturell kaum angebundenen Rhodopen, einem Gebirge rund 250 Kilometer südlich der Hauptstadt nahe der Türkei und Griechenland. In Smolyan, als Skiort bekannt und mit Zweckbauten für eine nie eingetroffene monumentale Zukunft bebaut, will sich das Rhodope International Documentary Film Fest (http://rife.bg) mit Hilfe deutscher Kulturinstitutionen als grenzüberschreitender Treffpunkt für junge Talente etablieren. Und tatsächlich kamen in Andres Veiels Masterclass zum ersten Mal türkische, griechische und bulgarische Filmstudierende zusammen.
Ein Programm, kuratiert von der in Heidelberg forschenden Antiziganismusexpertin Radmila Mladenova, setzte sich dokumentarisch mit dem heiklen Thema der Geschichte und aktuellen Situation der Roma auseinander. Dass einige Filme mit Hilfe des Goethe-Instituts auch in Roma-Vororten von Sofia gezeigt werden, ist ein Signal gegen rassistische Hetztiraden radikaler Nationalisten im Land.
»Die wir ›Zigeuner‹ nennen, bezeichnen sich als ›Roma‹ – das heißt ›Menschen‹. Viele von ihnen bekommen Angst, wenn sie das Wort ›Zigeuner‹ hören. Sie fürchten, alles könnte sich wiederholen.« Peter Nestlers Sätze aus seinem Film »Zigeuner sein«, in dem er 1970 die beschämenden Schilderungen von Menschen dokumentierte, die den Holocaust der Sinti und Roma überlebten, im Nachkriegsdeutschland jedoch vergessen und erneut ausgegrenzt wurden, war gleichsam das Motto der Reihe. Historische Recherchen von Roma-Repräsentant:innen erweiterten z. B. in »A people uncounted« (Aaron Yeger, 2011) den beschämenden Befund, ähnlich in »Merry is the Gypsy-Life« (Ludmila Zhivkova, 2017), in dem die erste Romni-Regisseurin Bulgariens auch die zum Mythos geronnene Rettung der bulgarischen Roma-Bevölkerung vor der Deportation untersucht und herausfindet, dass sie zu Massentaufen veranlasst wurden, ihre muslimischen Namen in christliche wechselten und ihre Männer als Musiker und Sanitäter im Krieg der Achsenmacht Bulgarien an die Front eingezogen wurden.
Filme wie z. B. »Welcome Home« (Eliza Petkova, 2011) machten die katastrophalen Folgen der deutschen Ausweisungspolitik um 2002 für die erneut entwurzelten Roma-Familien auf dem Balkan bewusst. Im Gegenzug zeigten andere Filme Roma als selbstbewusste Überlebenskünstler, darunter Philip Scheffners »And-Ek-Ghes« (2016), in dem Familie Velcu sich und ihre Träume selbst filmte. Auch Natalia Tsekova, die erste Roma-Schauspielerin mit bulgarischem Akademiediplom, griff in ihrer Soloshow, die »My Gypsy Road« (Vilma Kataska, 2020) dokumentierte, die überkommenen Klischees auf und deutete sie mitreißend als Botschaft ihres persönlichen Empowerments um.
In derselben Tonlage unübertrefflichen Galgenhumors führte »Bread and Circuses« (2013) Georgi Stoievs Besuch beim ersten unabhängigen Nachbarschafts-TV einer Roma-Siedlung mitten ins Herz der Probleme. Während er kostenlos Brot ausfährt, erzählt DJ Bobi, halb Sozialarbeiter, halb einfallsreicher Unternehmer, was die Arbeitslosigkeit im kapitalistischen Transformationsprozess nach 1989 und der Mangel an Gesundheitsvorsorge, funktionierenden Sozialsystemen und Bildungschancen bei den Roma anrichten. Stoievs Team begegnet Menschen, die vor der Kamera spontan Aufmerksamkeit für ihr bitteres Leben einfordern, aber ebenso oft unvermittelt in sprühende Tanzlust ausbrechen.
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