Berlinale: Die Dinge des Lebens
»Petite Maman« (2021). © Lilies Films
Carlo Chatrian hatte es angedeutet: Die Filme dieser Berlinale tendieren zum Rückzug, besinnen sich aufs Wesentliche. Ein Check durch die Sektionen
Ausbeutung, Umweltzerstörung und nun Pandemie: Können wir die Erde, die wir so gründlich ruiniert haben, nicht einfach hinter uns lassen und abhauen ins nächste Sonnensystem? Es machen wie die Polynesier, die vor über tausend Jahren in ihren Kanus den halben Pazifischen Ozean bereisten und Hawaii besiedelten? Dort hat Fern Silva wesentliche Teile seines in der Sektion Encounters ausgezeichneten Essayfilms Rock Bottom Riser gedreht, eine Mischung aus rauschhaften Naturaufnahmen, historischer Reflexion und astronomischer Spekulation, die die Marken setzte für ein Thema dieser Berlinale. So extensiv, so konsumistisch wie wir leben, können wir nicht weitermachen, Alpha Centauri ist aber noch zu weit weg. Was ist wichtig, was brauchen wir wirklich?
In Lê Bāos Spielfilm »Vi« (Taste), ebenfalls ein Encounters-Preisträger und eins der vielen Debüts im Programm, ziehen sich vier vietnamesische Frauen und ein aus Nigeria eingewanderter Sportler, der nach einer Verletzung arbeitslos geworden ist, aus dem Trubel von Ho Chi Minh City in eine Art Urhöhle zurück: einen fensterlosen Bau, in dem sie kochen, essen, schlafen, Sex haben, über weite Strecken wortlos. Ein Leben fast wie in der Steinzeit, Menschen, die auf die elementarsten Funktionen des Körpers zurückgeworfen sind. Ein Leben aber auch, das Zeit schenkt – das slow cooking hier ist eine Performance für sich.
Mit seinen skulpturalen Bildern war Vi wohl einer der eigenwilligsten Filme des Festivals (früher wäre er im Forum gelaufen). Die Tendenz zum Rückzug oder zur Reduktion zeigte sich aber auch in konventionelleren Beiträgen. In »Das Mädchen und die Spinne« von Ramon und Silvan Zürcher (»Das merkwürdige Kätzchen«) machen sich eine zerbrechende WG und ihre Angehörigen – vor allem Frauen: Herrscherinnen über die Intimität – bei einem Umzug das Leben schwer. In zwei Wohnungen fokussieren sich Kamera und Dialoge neurotisch auf die kleinsten Dinge: Haushaltskram wie Becher, Schraubenzieher, Pflaster und Blessuren, ein Lippenherpes, eine Schnittwunde. In »The Scary of Sixty-First« von Dasha Nekrasova ist das neue Heim zweier New Yorker Hipsterinnen der pure Horror: Das Apartment hat mal Jeffrey Epstein gehört, und schon der erste Blick in den Kühlschrank offenbart ein Ekelarrangement, das Polanski zu denken geben könnte.
Optimistischer sind die Franzosen. Im Wettbewerb zeigte Xavier Beauvois’ Albatros um eine aktuelle soziale Tragödie herum – Bauernsuizide – fast zu viel funktionierenden französischen Alltag; im Panorama erzählte der Regiedebütant Louda Ben Salah-Cazanas unter dem apokalyptischen Titel »The World After Us« eine Liebesgeschichte, als gäbe es weder gestern noch morgen. Céline Sciammas unter Corona-Bedingungen gedrehtes Familienbild »Petite Maman« setzt ebenfalls die Gesetze der Zeit außer Kraft – in der Enge eines auf ein Haus und ein Waldstück reduzierten Spiegeluniversums, im Spiel zweier Mädchen scheint eine kleine Utopie auf.
Bei der Dokumentaristin Alice Diop, die den Hauptpreis der Encounters gewann, findet alles zusammen. Nous führt durch die Vorstadtlandschaft der Île de France, nicht unbedingt Frankreichs gute Stube. Aber Diop ist eine empathische Chronistin des make do – wie man sich mit dem Mangel arrangiert. In einer langen Passage folgt Diop einer schwarzen Pflegerin auf ihrer Tour. Die Frau kennt ihre Rentner und Rentnerinnen, sie weiß genau, wer wann welche Tablette bekommt. Zwischen 50er-Jahre-Tapeten und Kuckucksuhren kommt es zu ausführlichen Gesprächen, Momenten der Ruhe. Es könnte ganz schön sein hier unten. Wir müssen es besser machen.
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