VIPs? Hier nicht – Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand
»What Did You Dream« (2020) von Karabo Lediga
Es ist das zweitgrößte Festival in Frankreich und das weltweit wichtigste seiner Sparte: das internationale Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand
Was ist schwarz, hat einen Vulkan und ist einmal im Jahr richtig wichtig für die Filmbranche? Clermont-Ferrand, eine 140 000-Einwohner-Stadt in der französischen Auvergne. Ein Begriff ist die Industriestadt vielen nur als Sitz des Reifenherstellers Michelin. In Frankreich besitzt das Rugby-Team mit der blaugelben Flagge ein gewisses Renommee. Der Hausberg Puy de Dôme, ein Vulkan, zierte zudem lange Zeit die Flaschen des Volvic-Wassers, das nicht weit von der Stadt aus der Erde sprudelt.
Einmal im Jahr putzt sich Clermont-Ferrand heraus. Zwar bleiben die Häuser und die Kathedrale schwarz, das ist dem Vulkangestein geschuldet. »Hat nichts mit Satanismus zu tun, das ist einfach so«, entschuldigen sich die Clermontoises scherzhaft. Aber die schwarze Stadt wird zum Cannes des Underdogs der Filmbranche: des Kurzfilms.
Das Kurzfilmfestival mag in Deutschland nicht das bekannteste sein, sind doch Regensburg und Oberhausen näher und in deutschen Medien besser vertreten. Clermont-Ferrand ist aber das wichtigste Kurzfilmfestival der Welt. »Ich hatte zuvor noch nie von diesem Festival gehört«, sagt Karabo Lediga, eine junge Filme- und Fernsehmacherin aus Johannesburg, Südafrika. Afrikanische Festivalkuratoren hätten ihr jedoch ans Herz gelegt, ihren Film nach Frankreich zu schicken.
Und so läuft Ledigas »What Did You Dream?« im internationalen Wettbewerb in Clermont-Ferrand. Die Geschichte handelt von einer schwarzen Familie im Südafrika der 90er Jahre, die vom kleinen Glück träumt. Regelmäßig spielt die Oma in der Lotterie, einem illegalen Glücksspiel, das von chinesischen Einwanderern organisiert wird. Währenddessen bereitet sich ihre elfjährige Enkelin Boipelo darauf vor, auf die prestigeträchtige englischsprachige Schule der Weißen zu wechseln. Die liebevolle Familienatmosphäre, das natürliche Schauspiel der Kinder, die Geschichte von Träumen und Träumereien – das alles bleibt fern von Problemfilm und Apartheid-Klischee. Als unschuldige Kindheitserinnerung beschreibt Lediga ihren Film. Und doch kann, wer will, darin Gesellschaftskritik und den bis heute währenden Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung erkennen.
Offensichtlicher sind gesellschaftliche Probleme in anderen Kurzfilmen. So thematisiert der Italiener Alessandro Di Gregorio in seinem Fünfzehnminüter »Frontiera« die Flüchtlingskrise auf der Insel Lampedusa in poetisch-absurden Bildern. Das Aufeinandertreffen eines Totengräbers und eines Tauchers, der die Leichen aus untergegangenen Migrantenbooten birgt, kommt ganz ohne Dialoge aus. Und Hamza Bangash beschreibt in krasser Offenheit das Schicksal und die Tabus von männlichen Sexarbeitern in Pakistan.
Eine interessante Perspektive gibt es auf den polnischen Kurzfilm. Das Gastland des diesjährigen Festivals ist mit einer großen Retrospektive vertreten, die angenehm klischeearm kuratiert ist. Ein Highlight: der schon etwas ältere »LARP« von Kordian Kądziela (auch auf Youtube zu sehen), der mit viel Humor die familiären Schwierigkeiten eines Live-Rollenspiel-Nerds aufarbeitet.
»Es gibt spritzige und lustige polnische Filme«, sagt der junge Sales-Agent Marcin Łuczaj, »nicht die typische Lodz-Filmschule.« Der Großmeister des polnischen Kinos sei immer noch Kieslowski, ein Großteil der Filme dementsprechend problembeladen und im düsteren Plattenbaumilieu angesiedelt. Aber das ändere sich derzeit, junge polnische Filmemacher würden vermehrt Interesse an Genrefilmen zeigen, und auch im Bereich Animationsfilm zeigten sich polnische Filmemacher stark.
Mehr als 400 Kurzfilme werden innerhalb einer Woche präsentiert. Die Kinos verzeichnen rund 170 000 Eintritte, viele Besucher sind aus der lokalen Bevölkerung. Das Festival, hervorgegangen aus einem Filmclub von Studenten, ist in die Stadt hineingewachsen. Und so bespielt das wichtigste Kurzfilmevent der Welt heute nicht nur Kinos, sondern auch ein kleines Theater und einige Hörsäle. Das Publikum nimmt man bis heute ernst: Meist gibt es französische Untertitel, zur Überraschung und zum Ärger der internationalen Gäste. Die können sich nicht einmal vordrängeln. VIP-Pässe gibt es nicht, auch Branchenvertreter, Regisseure und Journalisten müssen sich anstellen.
Viele der 3000 Branchenvertreter, zu denen auch Marcin Łuczaj gehört, treiben sich aber sowieso in einer riesigen Sporthalle herum. Unter hochgeklappten Basketballkörben ist ein Parcours von Ständen aufgestellt, an denen sich Filmverkäufer, Filmförderungsanstalten, Fernsehsender und Streamingplattformen präsentieren. Manchmal hat man den Eindruck, dass der »Filmmarkt«, ein mehrtägiges Dating-Event der Branche, ein Reinfall ist: die Gesichter gelangweilt, der Informationshunger der Vorbeischlendernden gedämpft.
»Die meisten Treffen finden in der Cafeteria im ersten Stock statt«, verrät Łuczaj. Er komme kaum zum Filmeschauen, so viele wichtige Gespräche habe er hier. »Es ist der einzige Ort, an dem es allein um Kurzfilme geht«, nicht vergleichbar mit Berlin, Cannes und Toronto. Und selbst die Vertreter der ganz großen Festivals reisen einmal jährlich nach Clermont-Ferrand, um hier auf Talentsuche zu gehen.
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