Solothurn 2018
»Blue My Mind« (2017). © Tellfilm
Die vier bedeutendsten Filmfestivals der Schweiz finden in Locarno, Zürich, Solothurn und Nyon statt. Auf meiner eigenen, natürlich subjektiven Rangliste ist Solothurn mittlerweile auf den Spitzenplatz der Beliebtheit geklettert, was bedeutet, dass die Werkschau des einheimischen Filmschaffens spielend mithalten kann mit der kuratierten Internationalität anderer Großveranstaltungen im Eidgenössischen. Circa 64 000 Zuschauer in acht Tagen strömten in die über die Barockstadt verteilten Kinos und Eventorte. Man erlebt Solothurn als Gesamtkunstwerk und als Kraftort, und die milden Temperaturen in diesem Jahr taten ein Übriges, das Wandeln zwischen den Sälen angenehm zu gestalten.
Die Solothurner Filmtage strahlen solide, der Film steht im Mittelpunkt, nicht der Glamour. Es ist ein Publikumsfestival, bei dem man zur »Upcoming Award Night« gehen kann (Nachwuchspreise für Kurzfilme Schweizer Studierender in- und ausländischer Filmschulen werden verliehen), zu organisierten Filmfrühstücken mit Regisseuren, Festivalveranstaltern, Szenenbildnerinnen und Schauspielern, auch eine Masterclass mit dem Starautor Martin Suter wurde angeboten, in der dieser über das Drehbuchschreiben für die Leinwand referierte. Das Festival von Solothurn fühlt sich offen und diskussionsbereit an, zeichnet sich durch Werkstattcharakter aus und hatte in seinem Köcher 2018 so viele interessante Filme, dass man gerne noch ein wenig im Sichtungsraum genächtigt hätte, um all das Verpasste aufzuholen.
Wie ein Damoklesschwert schwebte die »No-Billag-Initiative« über dem Festivalgeschehen. Die Vorlage, die als Kern das Gebührenverbot für den öffentlichen Rundfunk in die Verfassung schreiben will, würde auch Solothurn und in Folge den Zuschauer vor dem Fernseher übers Jahr einen Großteil seiner hochkarätigen Filme rauben. Weder ist der private Markt willens und in der Lage, so viele anspruchsvolle Fernsehproduktionen hervorzubringen, noch könnte man der besonderen Situation der Schweiz gerecht werden, die ohnedies durch ihre verschiedenen Sprachregionen zersplittert ist.
Der Schweizer Bundespräsident Alain Berset etikettierte in seiner Eröffnungsrede unsere Zeit als die »postfaktische«, in der wissenschaftliche Erkenntnisse hinweggewischt werden und deshalb der Fortschritt zum Stillstand käme. Im Schweizer Film hingegen würde man sich selbst begegnen, nicht in klischeehafter Form oder als Werbeträger, sondern authentisch und tiefenscharf. Wenn erstmal jeder »in seiner eigenen Filterblase« säße, wäre kein Austausch mehr möglich.
Doch erst wo das »Diesseits« sich vom »Jenseits« scheidet, reißt die Möglichkeit der Kommunikation endgültig ab.
Der Schweizer Mundartrocker Polo Hofer ist im Juli 2017 verstorben. Der in Italien lebende Schweizer Filmemacher Clemens Klopfenstein hat in »Das Ächzen der Asche« einen ob des Todes seines Freundes leicht desorientierten Max Rüdlinger durch umbrische Wälder und Dörfer geschickt und dort philosophieren lassen. Zwischendurch begegnet er dem Verstorbenen als Statue und trägt seinen Kopf aus Stein durch die Gegend. Der Film ist in Umkehrtechnik zu sehen, weiß ist schwarz, wie im Filmnegativ, das wirkt surrealistisch-malerisch. Anthrazitfarbene Landschaften lassen die Schönheit der umbrischen Wälder erahnen. Klopfenstein wollte ein Zwischenreich darstellen, deshalb wählte er diese Machart, und wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, entwickelt der Film einen Sog, der nicht mehr loslässt. Ein aussergewöhnliches Requiem für einen symphatischen Künstler, der, wäre Polo noch am Leben, zusammen mit Max Rüdlinger herumstreifen hätte sollen. Klopfensteins Film, der viel Improvisation zulässt und sowohl theatralisch als auch photographisch überzeugt, ist die ideale Erfrischungskur für tatortgeschädigte Menschen. »Das Ächzen der Asche« ist auch das Ende einer Trilogie, und Klopfenstein gehört zu dem Genre Autorenfilmer, die mit ihrem Werk verschmolzen sind, ein eigenes »Branding« entwickelt haben. Wenn das Leben eine Autobahn ist, dann sind Klopfensteins Filme geschwungene Paßstrassen, auf Eseln beritten und von Nattern umzüngelt.
Der Tod, das Sterben oder die Vorbereitung auf dasselbe, das Ziehen einer Lebensbilanz, der Freitod im Alter oder der zu frühe Tod durch Krankheit wird immer mehr zum Filmthema und ersetzt damit die starke Dominanz des Themas »Drogen« an früheren Filmtagen.
Kaspar Kasics fand für »Das Erste und das Letzte« Jaqueline von Kaenel. Schwer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt im mittleren Lebensalter, von Beruf Psychologin und vom persönlichen Schicksal her eine Gezeichnete einer schwierig-interessanten Familienherkunft. Der Vater mit Vorfahren, welche im Käsegewerbe tätig waren, mittlerweile im Franco-Spanien in hoher beruflicher Position, die Mutter aus Ostpreußen und eine vertriebene Adelige, drei Geschwister und ein innerfamiliärer Geist, der an ein Militärlager erinnert. Eine entwurzelte Mutter, die ihre eigenen Wunden durch die Kontrollsucht über ihre Kinder kompensiert und diesen damit ihr Aufwachsen zur Hölle macht. Zwar waren die Geschwister privilegiert, konnten Reiten und Tennis spielen, hatten Musikunterricht und Urlaube am Meer, wurden jedoch auch von ihr regelmässig verprügelt und unter ein strikt autoritäres Regime gestellt. »Das Erste und das Letzte« ist eine emotionale, subjektive »Tour de Force« durch die frühen Familienerinnerungen Jacqueline von Kaenels. Glücklicherweise gab es viele Photos, die das Leben von damals für den Zuschauer gut illustrierten. Hinzugefügte atmosphärische Animationszeichnungen (Ana Kofmehl) lassen einen durchatmen, denn Jaqueline von Kaenels erzählerischer Lebenssturzbach wird von Kasics nicht der Furor genommen. Weniger eindringlich die Szenen mit Jacquelines eigenen Söhnen am Krankenbett, auch hätte man etwas mehr über das Schicksal der Geschwister erfahren mögen. Kasics neunzigminütige Dokumentation raste pfeilschnell vorbei, Lebensbeschleunigung und Lebensintensivierung für den Solothurnbesucher.
Unerwartet plötzlich, jedoch alt geworden, starb 2013 Wilfried Meichtrys Hauptdarstellerin Katharina von Arx. Die erste Regiearbeit des Autors und Historikers Meichtry nimmt sich das Leben und sein eigenes Buch über Katharina von Arx und Freddy Drilhorn zur Vorlage. Ein mit fiktionalisierenden Einsprenkseln ergänzter Dokumentarfilm über ein Künstlerpaar, deren Liebesbeziehung in den fünfziger Jahren auf einer Südseeinsel begann, in die Schweiz importiert wurde und dort unter Geldsorgen und unterschiedlicher Lebensausrichtung zerbrach. »Bis ans Ende der Träume« lebt von den dokumentarischen Aufnahmen mit Katharina von Arx, von alten Photos, von Bildern des mittelalterlichen Hauses, welches Katharinas Lebensort und Lebensprojekt wurde. In Spielszenen mit Sabine Timoteo als Katharina und Christophe Sermet als Freddy versucht Meichtry, die Interaktion des Paares zu verdeutlichen. Auch hier ein schwieriger familiärer Hintergrund, der möglicherweise am frühen Herztod Freddys mit fünfzig Jahren nicht unbeteiligt war. Von seiner eigenen Mutter verstossen wegen eines Diebstahls, den er nicht begangen hatte, wartete er zeitlebens auf Versöhnung.
Eine Reisejournalistin, die sich in den fünfziger Jahren traut, ohne Geld trampenderweise von Land zu Land zu kommen, Ukulele spielt und singt, um sich Fahrkarten zu verdienen, Hals über Kopf verliebt schwanger und häuslich wird, doch auch in diesem Rahmen aussergewöhnlich bleibt, denn ein Jahrhunderte altes Haus ohne genügend Geld zu renovieren, ist mindestens ebenso herausfordernd wie die Südseeexpeditionen zuvor.
Spannende Protagonisten und Themen für ihre Dokumentarfilme zu finden gelang den Schweizern schon immer, doch in diesem Jahr schien es ein besonders dichter Jahrgang zu sein. Ob »Gotthard – One Life, One Soul« über die Schweizer Kultband um Chris von Rohr oder »Walter Pfeiffer – Chasing Beauty« über einen 70jährigen Modephotographen und Künstler, Quergeister scheinen in der Schweiz ebenso zu spriessen wie die Banker. Dank dem Solothurner Festival und ebenso dank dem staatlichen Schweizer Fernsehanstalten als Koproduzenten erfährt der »normale Zuschauer« auch davon.
Die beiden Wettbewerbe »Prix de Soleure« und »Prix Du Public« heben zwar Filme aus dem Festivalprogramm heraus, haben in Solothurn jedoch weit weniger Bedeutung für das Festivalgeschehen als die Wettbewerbe in Locarno. Humanistisches Engagement und prägnante filmische Gestaltung sollen die für den »Preis von Solothurn« nominierten Filme einen.
Schweizer Spielfilme sind so unterschiedlich wie die Schweiz in ihren verschiedenen Sprachregionen von Temperament und Charakter.
»Mario« von Marcel Gisler erzählt die Geschichte zweier Nachwuchstalente auf dem Fussballplatz, deren Privatleben mit dem Karrierestreben in Konflikt gerät.
Mario (Max Hubacher) wird von seinem Vater gemanagt und ist auch sonst noch eher unbeholfen, was sein Leben ausserhalb des Fussballplatzes betrifft. Der selbstbewusste Leon kommt neu ins Team, ist homosexuell und weckt in Mario das, was wohl schon länger in ihm schlummert. Eine Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf, und Gisler erzählt sie unspektakulär, fast sachlich. Leon schiesst Tore, wird bewundert und angefeindet, Testosteron liegt in der Luft, und bei Mario ist es eine Sanftheit und ein Sehnen, dass sich hinzugesellt. Dann rollt sich die Geschichte auf wie sie es in einigen Kleinstädten gleichermassen täte, die beiden werden Ziel von Anfeindungen aus dem Team und kommen unter Druck von der Chefetage. Gisler wählt kein Happy-End. Mario triumphiert am Fussballfeld und bezahlt im Privaten mit Verzicht und Einsamkeit. Max Hubacher, der bei einem Filmbrunch während des Festivals im Berner Dialekt darüber referierte, dass er beim Spielen einen »Gegenüber« brauche, und der in Leipzig gerade auch nochSchauspiel studiert, trotz der bereits gemachten Erfahrungen und Rollen.
Am Drehbuch hat Thomas Hess mitgewirkt (»Happy New Year«, »Räuberinnen«), Aaron Altaras als Leon ist das warme, sinnliche Zentrum des Films. Vermutlich wäre es leichter gewesen, die Geschichte aus seiner Warte zu erzählen, doch Gisler und Hess wählen die schwierigere Variante und bilden den gesellschaftlichen »Status Quo« ab.
Für den Schweizer Filmpreis in verschiedenen Kategorien wurde »Blue my Mind« von Lisa Brühlmann nominiert. Eine expressionistisch erzählte »Coming-of-Age-Geschichte« mit einer charismatischen Luna Wedler als Hauptfigur Mia. Ein Teenager in seiner wilden Phase, die Regisseruin, die auch das Drehbuch schrieb, ist genau beobachtend und präzise in den Szenen der Jugendlichen untereinander, schafft mit ihrer märchenhaften Wendung der Geschichte jedoch einen Bruch, der sich mit dem anfänglichen Realismus nicht zusammenfügt und wie ein Notausgang wirkt.
Luna wachsen Schwimmhäute zwischen den Zehen und am Ende gleitet sie als Meerjungfrau mit Fischschwanz in den Ozean.
Wozu Menschen fähig sind, wenn sie leidenschaftlich aneinandergerater, zeigt »Fauves« von Robin Erard (Schweiz, Luxemburg und Belgien in Koproduktion). Der Mensch als Raubtier, als Fressfeind seines Nächsten, sogar in der eigenen Familie. Nur der Dominante gewinnt, hat Elvis verinnerlicht, und behandelt auf diese Art auch sein Pflegekind Oscar, das mittlerweile jedoch kein Kind mehr ist. Robin Erard hat zusammen mit Joanne Giger lange am Drehbuch gearbeitet, und das merkt man dem Film an. Rasant und tiefgründig und spannend, halb Psychodrama, halb Krimi, immer am Abgrund und am Ende gibt es Tote in einer Baugrube, die da hineingepurzelt wurden. Einige Gewalt ist in dem Film, jedoch keine, die stumpf macht, sondern eher betroffen. Man hat etwas verstanden über die menschlichen Leidenschaften und wie man es besser machen kann im Leben. Geniale Schauspieler, eine einfühlsame Kamera (Olivier Boonjing), »Fauves« gehörte zu den Filmen, die auch beim zweiten Sehen Entdeckungen versprechen. Eine Koproduktion mit dem Westschweizer Fernsehen (RTS) genau wie Lea Pools »Et au pire, on se mariera« eine Koproduktion mit dem deutschschweizer Fernsehen (SRG SSR)ist. Auch eine Teenagergeschichte, über frühen emotionalen Missbrauch und deren Spätfolgen, schade, dass sowenig junge Leute in den Sälen sassen, manchmal muss man den Hund offensichtlich zum Jagen tragen, auch in der Schweiz.
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