Berlinale: Tropfen auf heiße Steine

»Styx« (2018; Start: 9.8.). © Zorro/24 Bilder

»Styx« (2018; Start: 9.8.). © Zorro/24 Bilder

Mit ihrem Programm von rund vierhundert Filmen ist die Berlinale das größte A-Festival Europas. Abbilden kann man das nicht mehr. Hier ein paar Filmperlen, die unsere Kritiker jenseits des Wettbewerbs gesammelt haben. Watch out for...

Vom Versuch anzukommen

Zwei deutsche Filme über Flüchtllinge: »Zentralflughafen THF« und »Styx« (Panorama)

Zwei deutsche Filme im Panorama nahmen das Thema Flucht in den Blick, könnten aber in Perspektive und Stil kaum unterschiedlicher sein: Der Dokumentarfilm »Zentralflughafen THF« von Karim Aïnouz beobachtet über ein Jahr hinweg den Alltag in der Notunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof, wo mehr als 2000 Flüchtlinge untergebracht sind. Es ist ein Leben zwischen Warten und Deutschlernen, zwischen Hoffnung auf ein neues Leben und Heimweh. Aïnouz konzentriert sich vor allem auf den 18-jährigen Ibrahim aus Syrien, dessen Stimme aus dem Off die nüchternen Bilder mit sehr persönlichen Gedanken und Gefühlen auflädt. Zugleich aber bettet »Zentralflughafen THF« den Mikrokosmos Notunterkunft in ein ästhetisch klug gestaltetes Por­trät des geschichtsträchtigen Flughafens ein, kontrastiert ganz ohne Pathos die Situation der Flüchtlinge mit den Berlinern, die auf der anderen Seite des Zauns auf dem Tempelhofer Feld beim Spaziergang oder Picknick ihre Freizeit genießen. Einer solchen Mischung aus Sachlichkeit, Aufmerksamkeit und Anteilnahme, wie sie dieser Film pflegt, würde man beim Thema »Flüchtlingskrise« gerne öfter begegnen.

Von Berlin auf den Atlantik, vor die Küste Afrikas: »Styx«, nach »Was du nicht siehst« der zweite Spielfilm von Wolfgang Fischer, erzählt von einer Deutschen, die mitten im Ozean mit dem Überlebenskampf einiger Dutzend Flüchtlinge auf einem Boot konfrontiert wird. Zuvor aber baut der Film lange Spannung auf, wenn er ausführlich den Beginn des ersehnten Solo-Segeltrips der Notärztin Rike schildert, inklusive Sturm, bevor die professionelle Helferin, die sonst immer weiß, was zu tun ist, vor ein unlösbares Dilemma angesichts des völlig überfüllten Flüchtlingsboots in Seenot gestellt wird. Andere Retter sind nicht in Sicht, die Küstenwache gibt strikte Anweisung, auf sie zu warten, kommt aber nicht, nahe Frachter haben Weisung, keine Flüchtlinge aufzunehmen. Und die Situation verschärft sich auch für Rike, als ein Junge es schafft, zu ihrer Yacht zu schwimmen. Neben den ethischen Fragen, für die der Film keine Lösung und keine Ausflucht bietet, öffnet »Styx« weitere Ebenen, spielt fantasievoll mit mythischen Motiven und Metaphern – und beeindruckt darüber hinaus mit Glanzleistungen von Kamera (Benedikt Neuenfels) und Hauptdarstellerin Susanne Wolff. Unter schwierigsten Bedingungen gedreht, braucht dieser kühne deutsche Film einen Vergleich mit dem (unvergleichlich höher budgetierten) Robert-Redford-Abenteuer »All Is Lost« nicht zu scheuen.

Patrick Seyboth

Agonie, Trümmer, Ödnis

Poetisches Meisterwerk: »An Elephant Sitting Still« von Hu Bo (Forum)

Eines langen Tages Reise in die Nacht: mit vier Menschen in der Krise. Bu, der eine, fühlt sich verfolgt, Ling, die zweite, ungeliebt, trotz der Liaison mit ihrem Lehrer, Cheng, der dritte, fühlt sich schuldig am Tod eines Freundes, und Wang, der älteste, kämpft darum, nicht ins Heim zu kommen. Im Laufe des Tages träumen sie alle davon, nach Manzhouli zu reisen, wo ein Elefant sitzt, der geduldig alle Wirrnisse der Welt erträgt. So, als sorge nur er noch für Hoffnung.

Hu nutzt die episodische Erzählweise, indem er Szene für Szene stärkt, so dass der Zwischenraum zum nächsten Bild als Leerstelle wirkt, in die das Gesehene emotional nachklingt. Er kadriert extrem eng, so dass vieles, was passiert, im Off bleibt. Und er arbeitet in radikaler Weise mit Unschärfe, die den Ereignissen jede Gewissheit nehmen. Die dunkelste Episode ist, wenn Ling zu ihrem Lehrer sagt, alles befinde sich in Agonie. Und der antwortet: Agonie herrsche in China doch für jeden von Geburt an.

Selbstverständlich ist der Film eine Anklage gegen die chinesische Gesellschaft. Und selbstverständlich wurde der Film sofort verboten. Hu hatte wohl dennoch Hoffnung. Als die sich nicht erfüllte, nahm er sich das Leben. Ihm ist mit diesem Drama um vier Verlorene in einer Stadt, wo jeder des anderen Wolf ist und wo es nur Kaputtes und Stinkendes gibt, Gewalt, Dreck, Trümmer, Müll, ein poetisches Meisterwerk gelungen. Eine Vision äußerster Ödnis, existentieller Tristesse, endgültiger Verlorenheit. Für mich (neben Petzolds »Transit«) der Höhepunkt der Berlinale 2018.

Norbert Grob

Kreuzfahrt der Kannibalen

»Human, Space, Time and Human« von Kim Ki-duk (Panorama Special)

Als das Floß der 1816 verunglückten französischen Fregatte »Méduse« nach langer Irrfahrt geborgen wurde, fand man 15 Überlebende. An den Seilen, die den Mast hielten, war Menschenfleisch zum Trocknen aufgehängt, heißt es; die Seeleute hätten einander in wütenden Kämpfen massakriert. Der neue Film des Südkoreaners Kim Ki-duk ist so etwas wie die moderne B-Picture-Variante dieses Szenarios, das noch heute als Metapher auf Klassenkonflikte und Verteilungskriege durch Kunst und Literatur geistert. Auf einem zum Kreuzfahrtschiff umgebauten, per Spontanlevitation in die Wolken entrückten Zerstörer, unter Menschen verschiedener sozialer Schichten, darunter ein Politiker, der mit ein paar jungen Männern ein Racket aufzieht, entbrennt in »Human, Space, Time and Human« ein schauriger Kampf um Macht und Ressourcen – es beginnt mit Vergewaltigung und endet bei Kannibalismus. Hoffnung erwächst, buchstäblich, aus den Resten der Geschlachteten, mit denen ein rätselhafter Alter eine biologisch-dynamische Pflanzung anlegt und den Kreuzer in ein flottierendes Treibhaus – ein Hauch Silent Running – verwandelt. Der überdeutliche allegorische Ansatz hat den Film nicht gerade zum Kritikerfavoriten gemacht. Aber vielleicht kann man den neoliberalen Diskursknoten nur auf diese Art durchtrennen: mit der Axt. Wir sind reich genug, dass wir alle versorgen könnten, von Seoul bis Essen, NRW. So einfach ist das.

Sabine Horst

Endlich der Kuss!

»303« von Hans Weingartner (Generation)

Eine lange Reise, ein langer Film, aber jede Minute ist es wert, mit Jan und Jule von Berlin nach Portugal zu reisen, und zwar in einem legendären 303-Mercedes-Wohnmobil. Die beiden Studenten lernen sich an der Tankstelle kennen, denn Jan sucht eine Mitfahrgelegenheit, und Jule ist froh über Gesellschaft auf dem Weg nach Portugal zu ihrem Freund. Hans Weingartner hat einen sommerlichen Liebesfilm als kurzweiliges Roadmovie gedreht, in dem viel diskutiert wird über die Welt im Allgemeinen und die Liebe im Besonderen, getragen von den wunderbaren Schauspielern Mala Emde und Anton Spieker. Völlig unaufgeregt, aber trotzdem mit einem schlüssig gebauten dramaturgischen Spannungsbogen zeigt der Film die Annäherung der beiden beim Einkaufen, Baden, Kochen und Autofahren.

»303« hat die Berli nale-Sektion Generation 14plus eröffnet, und selten hat man bei einem Film erlebt, dass das Publikum derart in den Bann gezogen ist. Zur entscheidenden Szene, wenn sich Jan und Jule endlich küssen, gab es Szenenapplaus und Jubel des Publikums. Ein Film, der belegt, dass die jungen Zuschauer auch von ruhigeren Filmen ohne viel Action zu begeistern sind.

Katrin Hoffmann

Freibeuterkino

Im Forum: »Die restaurierten Geschichten vom Kübelkind« von Ula Stöckl und Edgar Reitz und eine Dokumentation von Robert Fischer

Einen utopischen Aspekt hatten die ­»Geschichten vom Kübelkind« von Anfang an. Ula Stöckl und Edgar Reitz realisierten sie von Ende 1969 bis Anfang 1971 in einer kritischen Phase des Neuen Deutschen Films. Nach ihren ersten Spielfilmen sahen sie keinerlei Chance, einen weiteren Autorenfilm ins Kino zu bringen. Die Fördermittel, über die sie dank eines früheren Films von Reitz verfügen konnten, wollten sie nicht zurückgeben. Deshalb verwendeten sie sie für ein Filmprojekt, das in kein Schema passte und das auch jetzt beim Wiedersehen in restaurierter Fassung eine schöne Ahnung der Freiheit hervorruft, unter der es entstanden ist. Es ist Freibeuterkino aus dem Geist von 1968, insgesamt 22 Episoden von ganz unterschiedlicher Länge, die man in beliebiger Reihenfolge an­sehen kann, oft spontan und immer mit geringem Aufwand gedreht auf 16-mm-Film, die bei ihrem Beutezug durch die verschiedensten Genres eine wunderbare Lust am Kino spüren lassen. Für die Filmemacher war es das – annähernd erreichte – Produktions­ideal, ohne Rücksicht auf Gremien oder ­Redaktionen morgens eine Idee zu haben, die sie mittags schon drehen konnten.

Das Kübelkind taucht aus einer Mülltonne auf, in der es aufgewachsen ist, und gerät mit schwarzer Perücke und immer demselben roten Kleid, mit roten Strümpfen und Schuhen, in eine ziemlich feindselige Kleinbürgerwelt, in der es nicht immer überlebt. Beinahe am schlimmsten ist es, wenn es der Fürsorge der bürokratischen Frau Wohlfahrt zum Opfer fällt. Das Kübelkind akzeptiert keine Regeln, ist aufmüpfig und widerspenstig, frech und unmoralisch, spricht aber ganz sanft und ist, wenn es zu Mord und Totschlag gekommen ist, in der nächsten Episode zum Glück wieder dabei.
Der von Ula Stöckl entdeckten Kristine de Loup, die das Kübelkind spielte, begegnet man in einem spannenden aktuellen Gespräch, das Robert Fischer für seine erhellende Dokumentation »Der Film verlässt das Kino« geführt hat. Deren Titel verweist auch darauf, dass man die bösen Märchen vom Kübelkind am besten auf unkonventionelle Weise ansehen sollte. Wenn man Glück hat, geht das in einem Kneipenkino, wo man die Episoden von einem »Speisenplan« auswählen kann, oder man nähert sich dem mit der demnächst zu erwartenden DVD an.

Karlheinz Oplustil

Roadmovie

Reise in die Vergangenheit: »The Interpreter« von Martin ŠulÍk (Special)

Es ist ein tiefer Riss, den in Martin Šulíks Film zwei ältere Herren überspielen müssen – der achtzigjährige Jiří Menzel als slowakischer Jude, dessen Eltern von den Nazis im Zweiten Weltkrieg ermordet wurden, und der kurz nach dem Krieg geborene Peter Simonischek als Sohn des österreichischen SS-Offiziers, der die Morde anordnete. »Mein Vater hat Hunderte Menschen erschießen lassen«, gibt er lapidar zu Protokoll, als der Überlebende an seiner Wohnungstür klingelt. Sein Vater sei übrigens bereits gestorben. Šulík gibt sich keine große Mühe zu erklären, wie das späte Rendezvous der beiden zustande kam und warum sie sich gemeinsam auf eine Reise zu den Orten der vergangenen Verbrechen machen. Lassen wir den Eigensinn zweier von großen Schauspielern verkörperter Menschen genug Erklärung sein – versteinerte Bitterkeit der eine, hedonistische Bonhomie der andere, eine Paarung, die mal zum Komischen, mal zum Erschreckenden neigt. In ihnen verdichtet sich zum Bild, dass die Nachkommen der Mörder und die der Ermordeten durch die Vergangenheit unauflöslich miteinander verbunden bleiben, die einen als vergessliche Gewinner, die anderen als bedrückte, um Gehör kämpfende Minorität. In schwachen Momenten rutscht der Film fast ins Frivole, konfrontiert aber Simonischeks Figur zuletzt doch mit der Härte von archivarischen Dokumenten, Fotografien, gefilmten Zeugenaussagen. Und verleiht dem großartigen Jiří Menzel, den wir vor allem als Regisseur kennen, in aller Resignation und Erstarrung eine bewegende Menschlichkeit. 

Karsten Visarius

Revolutionärer Philosoph

»Notes on an Appearance« von Ricky D'Ambrose (Forum)

Ein junger Mann verschwindet, aber im Filmtitel steht nicht »Verschwinden«/»disappearance«, sondern »appearance«. Auch andere Figuren tauchen kurz auf und verschwinden dann wieder. Der New Yorker Filmemacher Ricky D'Ambrose (Jahrgang 1987) erzählt in seinem ersten Langfilm fragmentarisch, oszilliert zwischen dokumentarischen und fiktiven Momenten, zwischen banalem Alltag (die Einträge in Davids Tagebuch) und konspirativen Geschehnissen. Vor seinem Verschwinden hat David den Nachlass des umstrittenen Philosophen Stephen Taubes katalogisiert, der seine Anhänger zu einer Revolte aufrief, die populistisch-autoritäre Züge trug, gewalttätige Auseinandersetzungen hatten schon seine öffentlichen Auftritte begleitet – davon legen eingeblendete Zeitungsartikel Zeugnis ab. Der neugierig gewordene Zuschauer, der diesen Namen noch nie gehört hat, fragt sich vielleicht nach einer Verwandtschaft zu dem deutschen Religionsphilosophen Jacob Taubes und beschließt, gleich nach dem Film den Namen zu googeln, auch die gezeigten Titel und Cover seiner Bücher und deren Rezensionen wecken Interesse. Man ist kein Spielverderber, wenn man verrät, dass Taubes eine Erfindung des Filmemachers ist, der sich mit den eigens für den Film gestalteten Faksimiles als begabter Bastler erweist. Ein Film, der dem Zuschauer immer wieder den Boden unter den Füßen wegzieht und in seinen stilisierten Bildkompositionen ein großes erzählerisches Talent verrät. 

Frank Arnold

Unbequem

Astrid Lindgrens Jugend: »Becoming Astrid« von Pernille Fischer Christensen (Special)

Es ist verpönt, einen Autor oder eine Autorin mit den von ihnen geschaffenen Helden gleichzusetzen. Und doch streitet kaum einer ab, welchen Einfluss das eigene Leben auf die fiktionalen Charaktere hat. Bei Astrid Lindgren (1907–2002) zumindest trifft dies definitiv zu. Das ist bekannt. Und genau damit spielt die dänische Regisseurin Pernille Fischer Christensen in ihrem zwar konventionell, dabei aber so anrührend, herzzerreißend und optimistisch erzählten Biopic ­»Unga Astrid« (»Becoming Astrid«). Sie porträtiert eine junge Astrid, die auf einem bilderbuchhaften Bauernhof mit strengen, aber liebe- und verständnisvollen Eltern aufwächst, der es bei den Tanztees im kleinen Dorf langweilig wird und die mit ihren langen geflochtenen Zöpfen wie eine wild gewordenen Pippi allein durch den Saal tanzt. Und sie erzählt von einer selbstbewussten Astrid, die bei der örtlichen Zeitung ein Volontariat beginnt und vom Chefredakteur schwanger wird, ihn aber nicht heiraten will und stattdessen ihren Sohn Lasse schweren Herzens bei einer Pflegemutter in Dänemark lässt. Dieser Coming-of-Age-Film, der in der Sektion Berlinale Special Weltpremiere feierte, ist ein bisschen wie eine Astrid-Lindgren-Geschichte: viele Probleme und ebenso viele Lösungen, eben eine Pippi Langstrumpf aus Bullerbü – mit der großartigen Alba August, dem diesjährigen schwedischen »European Shooting Star«.

Britta Schmeis

Endlosschleife

Chaos im Iran: »Hojoom« von Shahram Mokri (Forum)

Düster und diesig liegt das Sportzentrum da. Hier hat Ali Saleem getötet; der wiederum zuvor zwei Mannschaftskameraden ermordet hat. Die Polizei will den Tathergang rekonstruieren. Wir folgen Ali, der die Schritte der Tatnacht wiederholt – doch nach dem ersten Durchgang trennt sich Ali von seinem Spiegelbild. Die Rekonstruktion wird wiederholt, doch ein anderer steckt in der Rolle des Täters, und wir folgen weiter Ali, folgen dem Geschehen aus der Außenperspektive durch das Spielfeld, die Tribünen, die Katakomben der Umkleidekabinen. Die Handlung wird komplexer, die Motivlagen werden undurchdringlicher, und ein drittes Mal wechseln wir die Perspektive, wieder Ali hinterher, geraten in einen Sog von Identitätswechseln, von Zeitschleifen, in denen Momente von Magie sich mit Momenten von Dystopie mischen, eine heimliche Zwillingsschwester und weitere Morde inklusive. Und das Unglaubliche: Die ganzen 102 Minuten des Films kommen ohne Schnitt aus, formen einen formidablen Mindfuck-Strudel, dem man sich nicht entziehen kann.

Harald Mühlbeyer

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