Lichter Filmfest: Mit und ohne Brille
»The Woman Who Left« (2016). © TIFF
»Virtual Reality« ist einer der Schwerpunkte des diesjährigen Frankfurter Lichter Filmfests (28.3. - 2.4.2017)
Nichts steht in letzter Zeit schwerer auf dem Prüfstand als die Wahrheit. In Zeiten von Fake News scheint das Konzept von Realität selber in Frage gestellt zu werden, und es ist nicht mehr immer unbedingt auf den ersten Blick klar, was wahr ist und was Fiktion. Dem Thema Wahrheit nimmt sich auch das Lichter Filmfest in seinem zehnjährigen Jubiläum an und macht es zum Titel seines internationalen Programms.
Dort befassen sich ganz unterschiedliche Filme mit diesem Thema: Im letztjährigen Venedig-Gewinner »The Woman Who Left« etwa rächt sich eine zu Unrecht verurteilte Frau am eigentlichen Straftäter. In seinem vierstündigen Werk beobachtet der philippinische Regisseur Lav Diaz neben seiner Heldin auch ihre diversen Weggefährten. Sie alle haben mit ihren ganz eigenen Schicksalen zu kämpfen, die Diaz in schönen Schwarz-Weiß Aufnahmen einfängt.
Der argentinische Oscar-Beitrag »The Distinguished Citizen« folgt dem Schriftsteller Daniel auf der Suche nach seiner eigenen Jugend. Dabei geht es vor allem um das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit. Denn Daniel hat in seinen Werken schon immer alte Bekannte porträtiert. Die finden das alles andere als komisch, und so sieht er sich bei seiner Rückkehr einigen Anfeindungen ausgesetzt, was den Film vom Drama hin zum Thriller kippen lässt.
In »Yourself and Yours« des koreanischen Berlinale-Lieblings Sang-soo Hong geht es um Vertrauen in Beziehungen. Ein junger Mann lässt sich von Gerüchten über einen angeblichen Seitensprung seiner Freundin verunsichern. Er stellt ihr nach und kann bald selber nicht mehr Schein und Sein unterscheiden. Hat seine Freundin etwa eine Doppelgängerin? Oder bildet er sich alles nur ein?
Das Thema Wahrheit klingt natürlich auch sehr nach Dokumentarfilmen, sagt Festivalleiter Georg Maria Schubert: »Jeder Dokumentarfilm beansprucht ja für sich, irgendwie die Wahrheit zu zeigen. Deswegen haben wir das ein bisschen ausgeklammert.« Ein paar gibt es im internationalen Programm aber doch: Zum Beispiel der amerikanische Film »Jackson« über die letzte Abtreibungsklinik im US-Bundesstaat Mississippi. Der Film zeigt in teilweise erschütternden Szenen von den Schicksalen der Frauen und von den Anfeindungen, die die Mitarbeiter der Klinik tagtäglich erleiden müssen. An »Jackson« wird deutlich, wie tief gespalten die US-amerikanische Gesellschaft in der Debatte um Abtreibung ist.
Eine zweite Sektion widmet sich einer ganz eigenen Form von Realität: dem Virtual Reality Format, bei dem die Zuschauer durch eine spezielle Brille selber den Eindruck haben als befänden sie sich im Geschehen. Bisher tauchte das vor allem im Gaming-Bereich auf, jetzt wagen sich auch erste Filmemacher an diese Erzählform: »Das Besondere an unserem Wettbewerb ist, dass es bei uns ums Geschichtenerzählen geht«, sagt Schubert. »Das ganze Internet ist voller Atmosphäre. Aber beim Geschichtenerzählen rätseln alle noch.« Die ersten experimentellen Schritte, die das Lichter Filmfest aus diesem Bereich zeigt, geben einen Vorgeschmack, wie sich diese Erzählform entwickeln könnte. Aus über 50 Einreichungen aus aller Welt wurden fünf Finalisten ausgewählt. Bei den Vorführungen bekommen die Zuschauer ihre Virtual-Reality Brillen aufgesetzt und sehen dann zeitgleich im Kino den entsprechenden Film zusammen. So verbindet das Filmfest die individuelle Seherfahrung der Virtual Reality mit dem Kinoerlebnis. Denn anders als bei den meisten Virtual Reality Formaten geht es hier nicht darum, dass der Zuschauer selber aktiv werden soll. »Film ist von Natur aus ein Medium, wo man nicht eingreifen will und soll«, sagt Schubert.
Die Schirmherrschaft des Festivals übernimmt in diesem Jahr Doris Dörrie. Die Regisseurin gehört seit den achtziger Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Regisseurinnen und zeigt ihren Film »Grüße aus Fukushima« in der Sparte »Zukunft deutscher Film«, in der sonst zum Beispiel auch der Berlinale-Erfolg »Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes« von Julian Radlmeier zu sehen sein wird.
Dörrie eröffnet dann am 28. März die sechs Festivaltage. Neben den Sektionen zu Wahrheit, Virtual Reality und der Zukunft des deutschen Films gibt es auch einen regionalen Wettbewerb. Da laufen dann Filme mit Bezug zu Hessen. Das kann heißen, dass zum Beispiel der Regisseur oder die Förderung aus Hessen kommt oder der Film hier gedreht wurde. Hier stellt zum Beispiel Romuald Karmakar seinen Film »Denk ich an Deutschland in der Nacht« vor. In der Dokumentation porträtiert der aus Wiesbaden stammende Karmakar fünf DJs, die von der Techno-Welle der neunziger Jahre in Deutschland erzählen. Auch aktuelle Strömungen der Techno-Szene lässt der Film nicht außen vor. »Denk ich an Deutschland in der Nacht« ist, nach »196 bpm« und »Villalobos«, Karmakars dritte Doku über die DJ- und Clubszene.
Ein weiterer Dokumentarfilm im regionalen Wettbewerb, »A Gravame – Das Stahlwerk, der Tod, Maria und die Mütter von Tamburi« zeigt die italienische Kleinstadt Tarent bei ihren alljährlichen Ostervorbereitungen. Dahinter steht aber der Kampf der Einwohner gegen ihre wirtschaftliche Ausbeutung. Ein Stahlwerk hat aus der ehemaligen Handelsstadt einen heruntergekommenen Ort gemacht, in dem miserable Arbeitsbedingungen und hohe Krebsgefährdung herrschen. Der Regisseur Peter Rippl stammt selber aus Frankfurt.
Es darf aber auch heiter zugehen in der regionalen Sektion, etwa in der Tragikomödie »Wann endlich küsst du mich?« von Julia Ziesche. Darin stellen sich zwei Schwestern und ihre Mutter den Widrigkeiten des Lebens wie ungewollte Schwangerschaften, Pflege für Opa und den Traum einer Schauspielkarriere, den eine der Töchter nicht so recht aufgeben mag.
Außerhalb der vier Sektionen laufen noch einige internationale Publikumserfolge, die zum Teil auch Bezug zu Hessen haben: Der französische Film »Alles was kommt« mit Isabelle Huppert erzählt von einer Philosophielehrerin, die aus allen Wolken fällt, als ihr Mann sie verlässt. Huppert begeistert in ihrer vielschichtigen Darstellung der mit Einsamkeit und Älterwerden kämpfenden Frau. Auf der Berlinale 2016 erhielt »Alles was kommt« den Silbernen Bären für die beste Regie. Der Ton des Films wurde teilweise in hessischen Studios gemischt. In »Morris aus Amerika« von Chad Hartigan muss ein dreizehnjähriger Amerikaner nach dem Tod seiner Mutter unfreiwillig nach Heidelberg ziehen. In der Fremde nähern sich Vater und Sohn über ihre gemeinsame Liebe zum Hip-Hop wieder an. Gleichzeitig findet Morris in der älteren Katrin seine erste große Liebe. Nur leider lässt sich sie von seinem rauen Rap-Sound weniger schnell beeindrucken als er geplant hat. Auf einem gemeinsamen Roadtrip nach Frankfurt kommen sich die beiden dann aber doch ein wenig näher.
Das Thema Wahrheit verfolgt das Festival schon, bevor am 28.3. der erste Film startet: In den zehn Wochen vor dem Festival zeigen Regisseurinnen und Regisseure wie Eva Becker, Gunter Deller, Sylvie Hohlbaum oder Nico Sommer im »10-Wahrheiten-Countdown« ihre ganz eigenen Wahrheiten in einminütigen Kurzfilmen auf der Homepage des Filmfestes.
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