Die Solothurner Filmtage
»L'âme du tigre« (2016)
Die Solothurner Filmtage hatten in diesem Jahr nicht nur viele Besucher, sondern auch ein gutes Programm
Die jährliche Werkschau des eidgenössischen Filmschaffens pustet wie ein gigantischer Sturm die Cineasten aus allen Ecken und Enden der Schweiz nach Solothurn. Nur die ganz Jungen lässt er offensichtlich aus, die scheinen sich fanatisch festzukrallen, hinter ihren Computern und Smartphones, um nicht vom Sog erfasst zu werden. Das Festival als große "Wohlfühlblase", in der kulturell interessierte Rentner träumerisch entschweben - nein das wäre eine Polemik. Zwar fiel dieser Begriff, doch die Überspitzung ist nicht gerecht. Neidlos muss man zugestehen, dass der "gemeine Schweizer" offenbar mehr Zuneigung, Treue und positive Gespanntheit dem in Solothurn vertretenen nationalen Filmschaffen gegenüber aufbringt als der "gemeine Deutsche". Acht Tage Festival an acht Orten innerhalb der malerischen Westschweizer Kleinstadt ergab eine Bilanz von circa 66 000 Besuchern.
Die in den Sälen etwas vermissten 18- bis 34-Jährigen könnte der Züricher Regisseur Jan Gassmann mit »Europe, She Loves« versucht haben anzusprechen. Die Spur, die der Film im Solothurner Festivalgeschehen hinterließ, war, in Farben gesprochen, ein blässliches Graulila. Wenn der Entstehungsgedanke der gewesen sein sollte, Verständnis für die Ähnlichkeiten der Gefühle und Probleme junger Menschen in verschiedenen Städten Europas zu wecken, zu zeigen, dass Dublin beinahe neben Spanien liegt, und Estland fast an Griechenland grenzt, dann empfand man den Film eher wie einen großen Schwamm, der alles auswischte. Als Liebesfilm zu aufgepropft und unverbunden, als Problemfilm zu disparat und als Stimmungsbild zu unstimmig und oberflächlich.
Francois Yang, in Fribourg in der Schweiz geboren mit chinesischen Vorfahren, betrachtet in »L'ame du tigre« Verwurzelung und Entfremdung, Tradition und Neubeginn eher mit dem Makroobjektiv und regional begrenzt in der chinesischen Community in Paris. Alex, Sohn einer französischen Mutter und eines chinesischen Vaters, wird durch den plötzlichen Tod seines Bruders nach Hause gerufen. Ein waberndes Familiengeheimnis und die Erwartungen väterlicherseits, sich mehr mit den asiatischen Wurzeln und Traditionen zu befassen, bringen Alex in einen Strudel von Emotionen und Ereignissen. Francois Yangs Film beleuchtet die Situationen eines jungen Mannes im Fadenkreuz zweier unterschiedlicher Kulturen, die sich in seiner eigenen Familie sowohl vereinen als auch bekämpfen. Kameramann Daniel Miller hat »L'ame du tigre« überwiegend im nächtlichen Paris, in Wohnungen und Restaurants in Szene gesetzt, ein gelb-braun-ocker-rot gehaltener Film. Der Schauspieler Frédéric Siuen verkörpert einen engagierten Alex, der jedoch abprallt an den Wänden des Schweigens, der Konvention und der Verschleierung. Identitätssuche zwischen westlichen und asiatischen Werten, eine Prise Krimi und eine Liebesgeschichte, Francois Yang ist vom Pass her Schweizer, sein Film ist "städtisch europäisch" mit Anklängen an das französische Kino.
Solothurn, die barocke Kleinstadt an der Aare, ist der ideale Gastgeber für ein nationales Großereignis wie die Filmtage. Im Grunde hat man das Gefühl, alles bliebe gleich seit Jahren, die trutzigen Gebäude, der Charme der gepflasterten Gassen. Fährt man mit der S-Bahn jedoch hinaus in die Vor-und Nachbarorte, begegnet man denselben seelenlos-genormten Neubaublocks wie überall. "Die Schweiz ist das beste Land zum Leben", konstatierte eine 29jährige Russin, die mich mit dem Auto in mein Vorortquartier mitnahm. Sie war stolz, in einem dieser Neubaublocks zu wohnen.
Von Quartieren, in denen Wohnen und Leben noch zusammengehört, erzählt Aldo Gugolz in „Rue de Blamage“. Es ist weniger eine "Straße der Blamage" als eine "Straße der Passage", denn Gugolz porträtiert eine Ausfallader am Rande von Luzern, die "Baselstraße". Einen Straßenmusiker, eine syrische Flüchtlingsfrau, einen Bildhauer, einen Geschäftsmann, eine Barbetreiberin und einen Rentner holt er vor die Kamera. Sie alle sind Suchende, Entwurzelte oder Versehrte. "Ich fehle mir, die alte Power hab' ich nicht mehr", singt der drogenabhängige Daniele, der sich als "Berufsoptimist" bezeichnet. Zwischen Ehrlichkeit und leichtem Realitätsverlust oszilliert Daniele, doch dabei wirkt er meistens sympathisch. Überhaupt gelingt es Gugolz, einen Überlebensfilm zu drehen, einen, der auf Atmosphäre und Ehrlichkeit setzt und zudem spannend ist, denn kaum etwas ist vorhersehbar oder gar abgedroschen.
Wenn am Schluss der etwas korpulente Arbeiter Heinz, vom Künstler Christoph in Stein gehauen und demnächst als Skulptur auf einem Verkehrskreisel stehend, kritisiert, sein Bauch wäre zu dick dargestellt, dann freut man sich, dass Heinz überhaupt Kritik äußern kann, denn beinahe wäre er an einem Hirntumor gestorben. Die Zerbrechlichkeit der Existenz und die Zufälligkeit des Schicksals gehen in »Rue de Blamage« einen festen Bund ein, und Gugolz zieht den Zuschauer tief hinein in den Kosmos seiner vortrefflich ausgesuchten und immer mit Sympathie behandelten Protagonisten. Die Zuschauer im Solothurner Landhaus-Kino spendeten einen Applaus, der nicht abebben wollte.
Elise Shubs »Impasse«, inhaltlich betrachtet eine nächtliche Cousine von »Rue de Blamage«, führt den Zuschauer in ein von Laternen und Autoscheinwerfern beleuchtetes Lausanne. Während Bilder von Stadtlandschaften und Straßen in Braun- und Gelbtönen ein poetisches Sehvergnügen bereiten, erzählen verschiedene Sexarbeiterinnen aus dem Off über ihre Arbeit. Diejenigen, die normalerweise die abendlichen Straßenränder bevölkern und trotz Schnees und Regen ihrer Arbeit nachgehen, sprechen nun in das Mikro der Regisseurin, als wären sie beim Priester in der Beichte. Einprägsame Bilder von Lastwagen und gläsernen Liften und die Monologe von Frauen, die sich häufig schuldig fühlen, dass sie als Prostituierte arbeiten - diese Verbindung bricht zwar kaum Vorurteile auf, jedoch erfährt der Zuschauer ruhig und unvoyeuristisch Tatsachen, über die es sich nachzudenken lohnt. Die Sexarbeiterinnen nicht vor die Kamera zu nehmen, sondern nur ihre Stimmen zu hören, schafft allerdings auch jenen Grad der Abstraktion, in dem man sich als Zuschauer gemütlich einrichten kann. Elise Shubs, ursprünglich Anthropologin, wurde mit ihrem Film „Impasse“ ebenso wie Aldo Gugolz mit »Rue de Blamage« für den 10 Werke umfassenden "Prix de Soleure" nominiert. Das Preisgeld für den "Sieger" beträgt 60000 Franken, einer der höchst dotierten Preise im Schweizer Film. Sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme sind zugelassen, gewonnen hat schließlich Petra Volpes „»Die göttliche Ordnung«, der den Kampf für das Frauenstimmrecht in der Schweiz fiktional bearbeitet.
Über das Solothurner Programm konnte man sich 2017 sicher nicht beklagen. »Zaunkönig – Tagebuch einer Freundschaft« etwa war die Dokumentation des Lebens eines zu früh am Drogenkonsum verstorbenen jungen Manns. Martin Felix hat glücklicherweise seine Notizen hinterlassen, es gibt Photos und Super-8-Material. Sein Freund Ivo Zen schuf rund um diese Texte eine 78minütige, liebevolle Erinnerungshommage, die das charismatische jungverstorbene Talent aus der Woge des Vergessenwerdens reißt. "Wir haben nicht an die Welt geglaubt, an die Werte, wir waren am Rand gestanden und haben beobachtet ....", notierte Martin damals. Die Aufzeichnungen bilden das Kernstück des Films, aus dem heraus Ivo Zen zu erkunden versucht, wie Martin langsam immer mehr in seiner eigenen Welt verschwindet, bis er mit 34 Jahren auch physisch stirbt. Der Film schmiegt sich an die Psyche seiner Hauptfigur, versucht nicht, das Drama allumfassend zu erkunden. Anders als die Masse leben, mehr wollen, mehr erwarten, mehr ausprobieren, diesen Anspruch hatte damals auch sein enger Freund und späterer Regisseur Ivo. Weshalb Martin den doch nötigen Absprung von den Drogen nicht stärker versuchte, lässt der essayistisch angelegte Film offen. Ivo Zen, der Filmer, überlebte die wilde Zeit.
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