Die Macht der Gefühle

»Jahrgang '45« (1965)

»Jahrgang '45« (1965)

Die Retrospektive der Berlinale nimmt das Jahr 1966 in den Blick – aus west- und ostdeutscher Perspektive. Zum Programm gehören fünf »Verbotsfilme« aus der DDR und verschiedene Highlights des jungen deutschen Films. Alle zeigen: Da war etwas im Umbruch, hüben wie drüben

Das Jahr 1966 war ein ganz besonderes Jahr für den deutschen Film – er gewann zum ersten Mal Anerkennung und Preise. Nacheinander ausgezeichnet wurden, wenn auch nicht mit dem Hauptpreis, Peter Schamoni mit »Schonzeit für Füchse« in Berlin, Volker Schlöndorff für »Der junge Törless« in Cannes und Alexander Kluge für »Abschied von gestern« in Venedig. Diese Erfolgsserie war nicht zuletzt dem 1965 gegründeten Kuratorium junger deutscher Film zu verdanken. »Abschied von gestern« und »Mahlzeiten« von Edgar Reitz (1967 in Venedig ausgezeichnet) gehörten zu den ersten geförderten Filmen.

In der DDR dagegen wurden zwölf Filme verboten. Das 11. Plenum des ZK der SED hatte im Dezember 1965 Filme, Theaterstücke, Bücher und Musikstücke verboten, die sich mit der Entwicklung der DDR-Gesellschaft kritisch auseinandersetzten. Der Reformprozess in Kultur und Wirtschaft, nach dem Mauerbau von 1961 vorsichtig begonnen, wurde rigoros gestoppt.

»Abschied von gestern – (Anita G.)« (1966)

50 Jahre später werden nun einige der Verbotsfilme und eine Auswahl des jungen westdeutschen Films in der Retrospektive der Berlinale zusammengeführt. Man stelle sich vor, 1966 wären nicht nur die Filme von Schamoni, Schlöndorff und Kluge herausgekommen, sondern auch Frank Beyers »Spur der Steine« und Jürgen Böttchers »Jahrgang '45« – was wäre das für ein Filmjahr gewesen. Die DEFA-Produktionen hätten sich vor den westdeutschen nicht verstecken müssen. Die Kultur-Stalinisten der DDR haben die interessantesten Filme verboten, Filme, die getragen waren vom Willen zur Veränderung, hin zu einem menschlichen, unbürokratischen Sozialismus. »Was die politischen Zensoren verstörte, war die Unbedingheit des Gefühls«, so Wolfgang Engler, heute Rektor der Theaterhochschule Ernst Busch.

Die westdeutsche Auswahl der Retrospektive kann nur die Anfangszeit des jungen deutschen Films dokumentieren. Fassbinder (von dem der erste Kurzfilm »Der Stadtstreicher« läuft), Wenders, Achternbusch, Herzog, Hauff – sie alle starteten erst richtig in den 70er Jahren. Aber schon in den 60ern gibt es Filme, die die Stimmung der Zeit gut zum Ausdruck bringen. Besonders gilt das für die hoffnungslose Reise der aus der DDR geflüchteten Anita G. durch Westdeutschland in Kluges »Abschied von gestern«. In Peter Schamonis »Schonzeit für Füchse« und Haro Senfts »Der sanfte Lauf« kommen junge Männer mit der erfolgreichen gutbürgerlichen Gesellschaftsschicht der Bundesrepublik nicht zurecht, aber noch fehlt ihnen die Kraft zur Rebellion. In  »Mahlzeiten« zeigt  Reitz die Selbstzerstörung einer jungen Ehe. Der Mann bringt sich um, er lässt die Frau zurück, die wieder heiratet, und die Kinder. Man merkt, das Unbehagen ist groß. In einigen Raritäten des Westprogramms  ist dagegen die Rebellion des Jahres '68 schon zu spüren,  in Vlado Kristls frech-chaotischem Spielfilmexperiment »Der Brief« oder in Klaus Wildenhahns »Smith, James O. – Organist USA«, seinem schönen Dokumentarporträt des großen Jazzmusikers.

»Mahlzeiten« (1967)

In der Retro laufen neun westdeutsche Spielfilme und fünf der verbotenen zwölf von der DEFA. Merkwürdigerweise fehlen gerade die beiden Filme, die als erste im Plenum niedergemacht und verboten wurden: »Das Kaninchen bin ich« von Kurt Maetzig, eine unmögliche Liebesgeschichte zwischen einer Kellnerin, die nicht studieren darf, weil ihr Bruder im Knast sitzt, und dem Richter, der ihren Bruder verurteilt hat. In Frank Vogels »Denk bloß nicht, ich heule« fliegt ein Junge von der Schule, weil er einen unbotmäßigen Aufsatz geschrieben hat. Wie im Westen geht es in den meisten Filmen um die Jugend, die die SED zu verlieren fürchtete. So auch in »Spur der Steine« und »Jahrgang '45«, den zentralen Filmen der Retro.

Ich gehörte im Sommer 1966 zu den wenigen Westdeutschen, die »Spur der Steine« an den drei Tagen, an denen er lief, gesehen haben, bevor er wegen inszenierter Krawalle abgesetzt wurde. Meine Nachmittagsvorstellung im Kino International in Ostberlin verlief ungestört; die meist jugendlichen Besucher hatten ihren Spaß an dem Film, sie freuten sich über die fähige, aber unsozialistisch-aufmüpfige Arbeitsbrigade von Hannes Balla auf einer Großbaustelle Ende der fünfziger Jahre. Das erinnerte an amerikanische Western, wenn eine Eisenbahnlinie gebaut wurde. Vor allem der freche Manfred Krug als Balla begeisterte das Publikum. Dass er am Ende die Mitverantwortung für die Baustelle übernimmt, hat nicht gereicht, den Film vor dem Verbot zu retten. Schuld war wohl die Geschichte des tüchtigen Parteisekretärs Horrath (Eberhard Esche), der sich in eine Ingenieurin verliebt, obwohl er verheiratet ist; sie bekommt ein Kind von ihm. In einem Parteiverfahren, »Spur der Steine« wird da zum Gerichtsfilm, verliert Horrath seinen Posten, die »Unbedingtheit des Gefühls« ist nicht gestattet.

»Spur der Steine« (1966)

Jürgen Böttcher ist neben dem jüngeren Volker Koepp und dem weniger bekannten Kurt Tetzlaff (von ihm laufen drei Kurzfilme im Programm) der interessanteste Dokumentarfilmregisseur der DDR, ein genauer Beobachter des Alltags. »Jahrgang '45«, sein einziger Spielfilm, zeigt den Alltag des jungen Berliner Ehepaars Al (Rolf Römer, der einzige Schauspieler im Ensemble) und Li (Monika Hildebrand). Ein harmloser Film, und doch subversiv: ein Paar auf der Suche nach sich selbst. Al und Li gehören zu einer Generation, die neben dem Staat herlebt, ihn nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Ästhetisch erinnert der Film an die Nouvelle Vague. Bei der ersten Präsentation von »Jahrgang '45« im Forum des Jungen Films 1990 war der Film noch nicht ganz fertig, es fehlten die Dialoge. Böttcher hat sie in einer wunderbaren Soloperformance im Kino live eingesprochen. In der Retro laufen beide Versionen, diese Verbotsfassung und die fertiggestellte Kinofassung von 1990.

Auch »Karla« von Hermann Zschoche (Szenarium Ulrich Plenzdorf) wird in der Zensur- und Kinofassung gezeigt. Karla (Jutta Hoffmann), eine junge Lehrerin voller Enthusiasmus und Aufmüpfigkeit, wird strafversetzt. Kritik am Schulsystem war in der DDR ein heikles Thema. Die DEFA-Spielfilmauswahl der Retro wird abgerundet durch »Berlin um die Ecke« von Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase und »Fräulein Schmetterling« von Kurt Barthel, Szenarium von Christa und Gerhard Wolf. Der Berlin-Film handelt von einem Konflikt am Arbeitsplatz und von Liebe im Betrieb, vor allem aber ist er leicht und frech, zeigt junge Leute und ihre Vergnügungen. »Fräulein Schmetterling« erzählt von zwei verwaisten Schwestern in einem Berliner Abrisshaus, die mit den verordneten sozialistischen Lebensregeln nicht zurechtkommen.

»Jahrgang '45« (1965)

Das 11. Plenum hatte über die Verbote hinaus weitreichende Folgen. Es gab Entlassungen in den Studios, Disziplinierungsmaßnahmen, die demütigende Selbstkritik. Neun weitere Filme wurden gestoppt. Es gibt zwei Bücher zum Thema: »Kahlschlag« enthält zahlreiche Dokumente und Analysen zum Plenum, der umfangreiche Band »Verbotene Utopie«, jetzt zur Retrospektive herausgegeben, sieht das Plenum als Zäsur in der DDR-Geschichte, die schon deutlich auf das Ende von 1989 vorausweist. Alle Verbotsfilme werden eingehend interpretiert.

Die Verbotsfilme heute zu sehen, ist ein merkwürdiges Vergnügen, auch mit Trauer verbunden, nicht wegen des Endes der DDR, sondern wegen der erzwungenen Beendigung hoffungsvoller Filmkarrieren. Natürlich gab es danach in der DDR auch wieder ungewöhnliche Filme, die aber sofort aneckten, Iris Gusners »Die Taube auf dem Dach«, 1973 verboten, erst 2010 aufgeführt, oder 1974 Egon Günthers Meisterwerk Die Schlüssel, bis heute ein Geheimtipp geblieben, nicht einmal auf DVD zugänglich. Eine fast absurde Pointe der Geschichte: Heute reisen die verbotenen Filme mit dem Goethe-Institut um die Welt – »Nachrichten von einem anderen Stern«, nennt sie Regine Sylvester in dem Band »Verbotene Utopie«.

Literatur

Der Katalog zur Retro: Connie Betz/Julia Pattis/Rainer Rother, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen (Hg.): Deutschland 1966. Filmische Perspektiven in Ost und West, Bertz + Fischer, Berlin 2015, 204 S., ill., 25 €. Bestellmöglichkeit (Amazon)

Günter Agde (Hg): Kahlschlag, 2. Aufl., Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2000. 432 S., ca. 12 €.

Andreas Kötzing/Ralf Schenk (Hg.): Verbotene Utopie. Schriftenreihe DEFA-Stiftung, Bertz + Fischer, Berlin 2015. 544 S., ill., plus Audio-CD, 29 €. Bestellmöglichkeit (Amazon)

Tipp

Im Filmmuseum Potsdam läuft bis 6. März eine Foyer-Ausstellung: »Gestört Verhindert Zensiert. Die verbotenen Filme der DEFA 1965/66«. Sie wurde von Bachelor-Studenten der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf erarbeitet und basiert auf Recherchen in der Sammlung des Filmmuseums und weiterer Archive.

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