Arigatō, Godzilla!: Das 29. Tokio International Film Festival
© TIFF 2016
In den neunziger und frühen nuller Jahren hat Japan die internationale Filmszene mit einer Reihe origineller, kreativer Talente beschenkt. Heute wird vor allem für den nationalen Markt produziert – und deutlich stromlinienförmiger. Beobachtungen vom größten Filmfestival des Landes in Tokio
Im neuen Godzilla-Film, »Godzilla Resurgence«, wird Amerika durch eine Diplomatin mit japanischen Wurzeln vertreten. Vielleicht geht es dabei um Empathie? In den Verhandlungen geht es um die Angemessenheit eines erneuten Atomschlags. Das Monster soll gestoppt werden, bevor es das Land verlässt und sich andernorts breitmacht. Eine Bombe auf Tokio werfen? Das ist selbst unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft vor der japanischen Bevölkerung nicht zu rechtfertigen. Die Politik entwickelt bald eine eigene Strategie der Monsterbekämpfung, man lässt sich nichts sagen. Der radioaktive Gigant soll mitten in Tokio zum Stillstand gebracht werden. Der globale Countdown für den Bombenangriff läuft dann schon. In diesem Film vermischt sich alles. Es gibt Momente des symbolischen internationalen Kräfteringens. Und politische Identitätsfragen tauchen neben Kommentaren zu Fukushima auf. Der Blick auf die Dynamiken der Nachkriegszeit ist skeptisch bis sarkastisch.
Das Monster in der Stadt. Dieses Setting kennt man aus der Geschichte des Toho Filmstudios, auch im Westen. Die Echse Godzilla ist Popkultur. In den Filmen von früher wären gleich die Raketen angerückt. Oder Außerirdische. Oder weitere Monster. Heute ist die Praxis nüchterner. Der erste Abschnitt des Films liegt überraschenderweise fest in der Hand der Menschen, die Berufsgruppen zugeordnet und in Komitees organisiert sind. Zwischen Fachleuten und patriarchalen Politikern wird diskutiert, abgewogen, abgestimmt, empfohlen, kollaboriert, suggeriert und intrigiert. Der Blick auf die Riesenechse, der fühlt sich schon bald nicht mehr so simpel an wie früher. Hier erscheint eine rätselhafte, interessante Gestalt, die einem Stereotyp von Godzilla gleicht, aber eben nicht dasselbe ist. Eine Gestalt, die mutiert und sich nicht vollständig begreifen lässt, eine Kinogestalt – ebenso mehrdimensional, wie der gegenwärtige Blick auf das japanische Kino. Dieser Blick kann auch nicht mehr simpel sein. Man kennt sich ja schon ein bisschen. Und doch bleibt vieles unbekannt.
Nicht bloß in die Figur, auch in die Produktion von Godzilla sind Traditionslinien eingeschrieben: Hideaki Anno, einer der Regisseure des Films, arbeitete früher an der Anime-Serie »Neon Genesis Evangelion«, in der sich Monster-Gigantomanie mit Philosophie und religiöser Exzentrik verband. Viel früher, in den Achtzigern, war er schon im Animationsteam von »Nausicaä aus dem Tal der Winde«. Ein Film, der die Entstehung des Ghibli Studios ermöglichte. Wir erinnern uns: Deren Animationsfilme waren untrennbar vom Boom des japanischen Kinos in den späten neunziger Jahren. Hayao Miyazakis »Prinzessin Mononoke« spielte 1997 Unmengen von Geld ein. Etwa zur gleichen Zeit zeichnete die Jury in Venedig erstmals einen japanischen Regisseur aus: Takeshi Kitano für »Hana-Bi«. Mit »Ring« setzte die globale Strahlkraft des J-Horror-Genres ein, bald wurden Regisseure und Regisseurinnen wie Kiyoshi Kurosawa, Shinji Aoyama, Hirokazu Koreeda, Takashi Miike oder Naomi Kawase international wichtig. In Japan bestand zur Jahrtausendwende eine äußerst lebendige, fundierte Indie-Filmszene um Talente aus den Neunzigern, wie Shunji Iwai, Jun Ichikawa, Makoto Shinozaki, Ryuichi Hiroki, Sion Sono, Rokuro Mochizuki, Nobuhiro Suwa, Shinji Aoyama oder Shinya Tsukamoto. Damals entstanden Indies mit Budgets von bis zu einer Million US-Dollar einfach an den Studios vorbei. Es gab einen funktionierenden Videomarkt, der vielen erste Gehversuche ermöglichte, eine vergleichsweise lebendige Filmkritik – nicht zuletzt durch den Einfluss des ikonischen Shigehiko Hasumi. Der Filmwissenschaftler Aaron Gerow schwärmt davon, wie das internationale Filmfestival in Tokio zu Beginn der neunziger Jahre noch aufwendige Retrospektiven in Zusammenarbeit mit dem National Film Center organisierte.
Ein Besuch des 29. Festivals im Jahr 2016 zeigt: Heute ist das anders. Beim größten und sichtbarsten Filmfestival des Landes zeigt sich seit Jahren modellhaft, dass die Verleihe unangreifbar und Teil der meisten Vermittlungswege geworden sind. Erst 2014 kritisierte Takeshi Kitano scharf die enge Verbindung von Verleihstrategien und Programmarbeit, als ihm vom Festival ein Preis verliehen wurde. Toho, der Traditionsbetrieb hinter »Godzilla«, sieht sich derzeit als größte japanische Produktionsfirma in einer Monopolstellung. Zahlreiche Kinos gehören der Firma. »Content« und »Cool Japan« sind gerade die Schlagworte der japanischen Kulturindustrie und der von Shinzo Abe geprägten Kulturpolitik. In Tokio findet neben dem Festivalprogramm ein Filmmarkt, der Content Market TIFFCOM, statt. Das erklärte Ziel der meisten Produktionen, die dort zu sehen sind: lokale Verwertung.
Das verwundert wirtschaftlich betrachtet kaum. Denn seit über acht Jahren sind die Umsätze des japanischen Kinos zu Hause wieder größer als die internationaler Filme. 2015 waren zwei Drittel der national erfolgreichsten Filme bei Toho im Vertrieb, nur Shochiku und Toei waren mit einzelnen Filmen ähnlich stark. 31 japanische Titel knackten an der Kinokasse die Eine- Millarde-Yen-Marke und generierten damit knapp 70 Prozent aller Einnahmen der Industrie. Der Rest des Gelds verteilte sich auf die fast 600 übrigen Arbeiten. Neben den Studios haben sich in der Filmproduktion ähnliche Komitees durchgesetzt, wie sie der neue »Godzilla«-Film in der Politik imaginiert: Alle sprechen mit, niemand redet Klartext. TV, Talentagenturen und Musikkonzerne steuern die Entwicklung eines Projekts und suchen sich dafür angesagte Stoffe. Popstars bekommen oft Rollen, nicht zwangsläufig Schauspieler. Die Anime-Adaption »Attack on Titan« (2015) war auch so eine strategische Produktion. Regie führte Shinji Higuchi, nun der zweite Mann hinter »Godzilla: Resurgence«. Kurzum: Bewährtes Handwerk und das erfolgreiche Rezept der multimedialen Vermarktung sollen heute zusammenkommen.
Freie Filmprojekte entstehen in Japan derzeit fast ohne Geld, der englische Filmverleiher und Produzent Adam Torel spricht von 100.000 US-Dollar pro Film, teils von erheblich weniger. Er findet deutliche Worte dazu. Doch wer nicht mit Studios arbeitet und in kein Komitee möchte, kann nur zum Amateurfilm. Das unabhängige Mittelfeld hat sich zersetzt, die kleinen Kinos müssen kämpfen. Es mangelt an Aufstiegschancen für junge Talente. Wenn ein unabhängiger Regisseur wie Hirobumi Watanabe (»Poolsideman«) in der Indie-Sektion des Tokio Filmfestivals (»Japanese Cinema Splash«) ausgezeichnet wird, dann öffnet das eine Tür in den Westen. Doch da ist es nicht einfach für sperrige und selbstreferenzielle japanische Indie-Filme. Vor allem Cannes bleibt derzeit gern bei den großen Namen – in den letzten Jahren gab es jedoch auch für die kaum Auszeichnungen. Vielleicht kann Watanabes Film stattdessen in Rotterdam laufen, dort wird gern Japanisches gezeigt. Oder in Udine beim Far East Film Festival. Unter Umständen schafft er es auch nach Frankfurt zu »Nippon Connection« oder zum japanischen Filmfestival in Hamburg. Ob seine Arbeit dann aber jemand entdeckt und international verteidigt, das bleibt unklar. Stephan Holl macht es in Deutschland ähnlich wie Adam Torel, mit Rapid Eye Movies ist er auch in die Produktion gegangen und hat zugleich seine Verleihpalette vergrößert.
Viele neue Regisseure geben nicht auf. Und einige der vielversprechenden sind weiblich: Miwa Nishikawa, Mika Ninagawa, Yuki Tanada, Momoko Ando, Yong-hi Yang, Mipo Oh, Ayumi Sakamoto. Oder Hitomi Kamanaka. Die ist Aktivistin und reist mit ihren Filmen durch das Land. So kommt sie aber auch nicht übers Meer. Die Situation ist herausfordernd. Manche organisieren sich daher, etwa in der Independent Cinema Guild um Festivalveteranin Asako Fujioka sowie die Filmemacher Yutaka Tsuchiya und Koji Fukada. »Midnight Eye«, das reichhaltigste Magazin zum japanischen Kino, machte gerade nach 15 Jahren dicht. »Things go in waves«, schreiben die Filmwissenschaftler Tom Mes und Jasper Sharp im Abschlusstext.
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