Rätselhafte Entscheidungen

Über die Gewinner und Verlierer der 64. Berlinale
"Black Coal, thin Ice" (2014)

Nein, die Welt war nicht in Ordnung im Wettbewerb der 64. Berlinale. Zum einen gab es nur wenige wirklich herausragende Filme – und dann gewannen
am Ende auch noch die Falschen

Zuerst ist es nur ein Paket. Dann realisiert der Zuschauer, dass es sich um ein Leichenteil handelt, das mit der transportierten Kohle auf einen Laster und dann auf das Förderband gerät, wo es ein Arbeiter entdeckt. Der chinesische Beitrag Black Coal, Thin Ice von Diao Yinan hatte sicherlich den stärksten, Zeichen setzenden Anfang im Wettbewerb der diesjährigen Berlinale. Black Coal, Thin Ice ist ein moderner Film noir: mit gescheiterten Gestalten, einer rätselhaften Femme fatale und einer – namenlos bleibenden – nordchinesischen Stadt, die Diao Yinans Kameramann kühl als ein seltsames Labyrinth mit bunten Lichtpunkten fotografiert hat. Ein Ort der Tristesse, schließlich spielt die Geschichte im fahlen Licht des Winters.

Black Coal, Thin Ice ist ein Film von großer visueller Kraft, dessen Story die Kenntnis von Genreklassikern wie Die Spur des Falken erahnen lässt. Dafür gab es den Goldenen Bären; Hauptdarsteller Liao Fan bekam für seine Rolle als ehemaliger Polizist, der das Leichenpuzzle zusammensetzen muss, den Silbernen Bären als bester Darsteller. Black Coal, Thin Ice war sicherlich einer der stärkeren Filme im nicht wirklich überzeugenden Wettbewerb der diesjährigen Berlinale, aus dem nur wenige Filme herausragten.

Filmclip aus "Boyhood" © 64. Berlinale 2014

Der Film, der tatsächlich den Hauptpreis verdient hätte – das ist Richard Linklaters Boyhood, das Meisterwerk dieser Filmfestspiele, die Geschichte einer Kindheit und Jugend in Texas. Schon von seiner Anlage her ist dieses Filmprojekt einzigartig: Über 12 Jahre lang hat Linklater seine vier Hauptdarsteller immer wieder zum Drehen zusammengerufen. Patricia Arquette spielt eine – meist – alleinerziehende Mutter, die mit ihrer Tochter (Lorelei Linklater) und ihrem Sohn Sam (Ellar Coltrane) immer wieder umzieht, Ethan Hawke gibt den geschiedenen Vater, der über die Jahre den Kontakt hält. Linklater schafft es, den Zuschauer mit perfekten Dialogen (»Kann man Mädchen mögen, die die Twilight-Saga gut finden?«) und berührenden Momentaufnahmen am Heranwachsen eines jungen Mannes teilnehmen zu lassen – und den Zuschauer drei Stunden bei der Stange zu halten.

Selten ist das Modell Patchworkfamilie so sympathisch dargestellt worden wie in Boyhood, und selten waren sich Kritiker und Publikum in Berlin so einig wie bei diesem Film. Dass Linklater von der in diesem Jahr hochkarätig besetzten Jury (u. a. James Bond-Produzentin Barbara Broccoli, Christoph Waltz und Tony Leung) nur den Trostpreis eines Silbernen Bären als bester Regisseur zugesprochen bekam, gehört zu den großen Rätseln dieser Berlinale-Ausgabe. Vielleicht weil Boyhood schon auf einem anderen Festival, in Sundance im Januar, lief? Auch Grand Budapest Hotel, Wes Andersons opulent ausgestattete Tragikomödie, wurde »nur« mit einem Silbernen Bären (Großer Preis der Jury) bedacht (Kritik auf Seite 36) .

Boyhood, am undankbaren Ende der Berlinale gelaufen, entpuppte sich als die große Überraschung eines eher herumdümpelnden Wettbewerbs. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es mittlerweile so etwas wie einen Berlinale-Stil gibt, kleine, authentisch konzipierte Filme, in denen der Alltag bis zum Überdruss eine bedeutende Rolle spielt. Und die man oft nach der Berlinale sofort vergisst. Es gibt aber nur wenige Regisseure, die Alltag so berührend und transzendent erzählen können wie der mittlerweile 83-jährige japanische Regisseur Yoji Yamada in The Little House, der Geschichte eines Dienstmädchens in einer Tokioter Familie in den späten dreißiger und vierziger Jahren. Es geht um verborgen bleibende Leidenschaften, und der Film spielt fast ausschließlich in Innenräumen. Aber The Little House erzählt auch von den Auswirkungen des Krieges, zuerst des chinesisch-japanischen und später des Zweiten Weltkriegs, auf das Zusammenleben der Menschen. Auch dieser meisterhafte Film hätte mehr verdient als nur den Silbernen Bären für seine hervorragende Hauptdarstellerin Haru Kuroki in der Rolle des Dienstmädchens Taki.

Es gehört mittlerweile zu den Gepflogenheiten der Berlinale, vor Ort in Babelsberg gedrehte Filme im Wettbewerb zu zeigen. Homegrown sozusagen. Das hat seine Berechtigung bei einem so kuriosen Film wie Grand Budapest Hotel, das mag in einem Fall wie Monuments Men (außer Konkurrenz) noch angehen, aber was das Special-Effects-Spektakel La belle et la bête (ebenfalls außer Konkurrenz) von Christophe Gans außer Standortpolitik auf dieser Bühne zu suchen hatte, erschloss sich nicht.

Apropos Standortpolitik. In diesem Jahr war auch die Quote deutscher Filme mit vier Beiträgen so hoch wie schon lange nicht: Jack von Edward Berger, Feo Aladags Afghanistan- Kriegsfilm Zwischen Welten (Kritik Seite 42), Dominik Grafs Schiller-Film Die geliebten Schwestern und Dietrich Brüggemanns Kreuzweg. Gewonnen hat allerdings nur einer etwas: Dietrich und Anna Brüggemann erhielten für ihr Drehbuch zu Kreuzweg einen Silbernen Bären. Auch die Ökumenische Jury entschied sich im Wettbewerb für diesen Film. Kreuzweg ist die Leidensgeschichte eines Mädchens aus einer fundamentalkatholischen Familie, angelehnt an die 14 Stationen des Leidenswegs Christi, erzählt in 14 spröden, in je einer Einstellung gedrehten Tableaus. Nun sind Fundamentalisten, auch christliche, immer ein leichter Gegner, und entsprechend thesenhaft wirken die meisten Dialoge in diesem unterkühlten Film. Und wenn ein Wunder geschieht am Ende, als die junge Maria stirbt, dann hört man das Drehbuchpapier wieder einmal rascheln.

Filmclip aus "Die geliebten Schwestern" © Senator

Mit runderen Figuren konnte Dominik Graf in seinem Die geliebten Schwestern aufwarten, dem besten unter den vier (rein) deutschen Beiträgen. Ein historischer Bilderbogen von 1788 bis hin zu Schillers frühem Tod im Jahre 1805, in dessen Mittelpunkt die – historisch nicht verbürgte – ménage à trois zwischen dem Dichter und den beiden Schwestern Charlotte (die Schiller heiratet) und Caroline steht. Sie wollen alles miteinander teilen, schwören sich die beiden Frauen beim Rheinfall von Schaffhausen einmal. Es geht Graf in seinem liebevoll ausgestatteten Film mit hervorragenden Darstellern (Florian Stetter, Hannah Herzsprung und Henriette Confurius) nicht um eine Ehrerbietung vor der Weimarer Klassik (Goethe kommt nur am Rande vor), sondern um die Sprengkraft der Liebe unter dem Mantel der Konvention.


 

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