Feine Unterschiede

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Cannes 2014: Die stille Macht der Privilegien war eines der beherrschenden Themen der Filme im Wettbewerb

Es ist ein Privileg, nach Cannes zu fahren. Sowohl für die eingeladenen Regisseure als auch für die Festivalbesucher. Denn genauso wenig, wie ein reiches Hollywoodstudio sich in den Wettbewerb »einkaufen« kann, können Besucher hier Karten kaufen. Das Festival ist ein Fest nur für geladene Gäste, und die »Invitation« teilt die Welt an der Croisette erbarmungslos in Privilegierte und Bittsteller. Mit Privilegien aber ist es so eine Sache. Sie werden gewährt; man kann sie nicht einklagen. Wer sie einmal hat, zittert um ihren Verlust; wer sie nicht hat, versucht seinen Stolz zu bewahren, indem er die verachtet, die sich ihrer erfreuen – und wartet ansonsten sehnsüchtig darauf, selbst dranzukommen.

Nur ein radikaler Akt kann das System aushebeln. Ein Akt wie dieser etwa: Einem armen Mann wird Geld angeboten, viel Geld. Er könnte es dringend brauchen, denn er ist hoch verschuldet. Das Geld aber kommt von eben den Leuten, die er für sein Elend verantwortlich macht. So nimmt er das Paket mit den Geldbündeln – und wirft es ins offene Feuer. Es ist ein Anblick, der es mit mancher Slasher-Filmszene aufnehmen könnte, so sehr füllt er den Zuschauer mit Unruhe: brennendes Bargeld!

Die Szene stammt aus Nuri Bilge Ceylans Winter Sleep, dem diesjährigen Goldene-Palme-Gewinner. Der Film war als Topfavorit gehandelt worden, noch bevor das Festival angefangen hatte. Nach zwei Grand-Prix-Gewinnen (für Uzak 2002 und für Once upon a Time in Anatolia 2011) und einem Regiepreis (für Drei Affen 2006) wurde Ceylan allgemein als »reif für die Palme« befunden. Nach der Premiere des drei Stunden und 16 Minuten dauernden Films war man sich allerdings nicht sicher, ob ein Film, dessen ganze Action aus Dialogen besteht, eine Jury überzeugen kann. Doch, er kann. Zumindest, wenn er damit auf so elegante Weise, wie Ceylan es hier tut, das diesjährige zentrale Thema in Cannes beschreibt: das Funktionieren von Privilegien und wie sie Machtstrukturen schaffen und Rollen aufzwingen.

Winter Sleep zeigt einen alternden ehemaligen Theaterschauspieler, der sich von seinem Beruf zurückgezogen hat und nun als Hotelbesitzer auf ererbten Gütern im bizarr-schönen Kappadokien ein untätiges Leben führt. Er selbst fühlt sich als Wohltäter, doch sein Umgang mit seinen Mitmenschen ergibt ein anderes Bild. In über drei Stunden entwickelt Ceylan aus dieser Ausgangslage ein subtiles Gesellschaftsporträt der heutigen Türkei mit ihren neofeudalen Strukturen, in der Arm und Reich unversöhnliche Gegensätze bilden, weil die Macht der Privilegien sich durch gute Absichten allein nicht brechen lässt.

Mit dieser Form von gesellschaftskritischer Beschreibung bestimmte Winter Sleep in diesem Jahr klar einen Trend. In ganz ähnlicher Weise nämlich nahm sich der russische Regisseur Andrej Swjaginzew die eigene Heimat in seinem Film Leviathan vor. Am Beispiel eines einfachen Mechanikers in der nordrussischen Provinz erzählt Zvyagintsev von Machtstrukturen, die ein Alptraum von Korruption und Verkommenheit sind. Es ist die Geschichte eines Niedergangs: Der örtliche Bürgermeister hat es auf das alte Familienhaus eines Mechanikers abgesehen. Als dieser sich dagegen wehrt, es zum Spottpreis verkaufen zu müssen, setzt der Bürgermeister eine Maschinerie in Gang, die systematisch und grausam das Leben des Mechanikers zerstört. Zvyagintsev, der mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, bedient mit seinem Film vielleicht ein wenig zu sehr das nun in Mode gekommene Negativbild von Russland als Land der Willkür und des Wodkas. Seine Erzählweise, die die raue Schönheit Nordrusslands in bestechender Form mit präzis ausgespielten Dialogszenen zu verbinden weiß, überzeugt aber zumindest durch Unterhaltsamkeit. Selten sieht man die verschiedenen Stadien der Trunkenheit besser dargestellt als in Leviathan.

Welche Privilegien der Reichtum mit sich bringt und zu welchen Verzerrungen das führt, darum geht es auch in Foxcatcher von Bennett Miller. Sein Capote besorgte Philip Seymour Hoffman 2006 seinen Oscar, mit Moneyball landete Miller 2011 einen Sportfilmhit in den USA. Auch Foxcatcher kommt auf den ersten Blick als von wahren Ereignissen inspirierter Sportlerfilm daher. Ein Brüderpaar (Channing Tatum und Mark Ruffalo), beide Amateurringer, verstrickt sich darin immer tiefer in die Wahnwelt des sie sponsernden Millionärs (Steve Carell). Das Drama um Bruderrivalität und -liebe wird dabei immer mehr zur ätzenden Kritik am durch Reichtum bedingten Wirklichkeitsverlust – für die Miller den Regiepreis erhielt.

Diese Rückkehr des Kinos zur Gesellschaftskritik wurde weiter unterstrichen durch Filme wie David Cronenbergs Maps to the Stars, in dem der Kanadier die Dekadenz und den Wahnsinn Hollywoods aufs Korn nimmt. Die herausragende Rolle darin spielt Julianne Moore als alternde Diva, die beim Kampf um eine neue Rolle keine moralischen Grenzen mehr kennt. Ob sie ihre neue Assistentin (Mia Wasikowska) mit völliger Distanzlosigkeit bedrängt, indem sie vor ihren Augen ihr Toilettengeschäft verrichtet, oder hymnensingend den Unfalltod eines Vierjährigen betanzt, weil der bedeutet, dass ihr eine Rolle zufällt – ihre Figur ist erschreckend und faszinierend zugleich. Für ihre schräge, schrille und zugleich verletzliche Verkörperung wurde Moore zu Recht als beste Schauspielerin ausgezeichnet.

Ebenso ins Thema passte die Entscheidung der Jury, den Briten Timothy Spall für seine Verkörperung des englischen Romantik-Malers in Mike Leighs Mr. Turner auszuzeichnen. Einer der berühmtesten Meister seiner Zeit, ist auch William Turner gezwungen, sich mit der Macht seiner Privilegien und deren Beschränkungen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Der 57-jährige Spall verleiht seiner Figur eine sympathische Knurrigkeit und bewies auch bei der Palmenvergabe viel Humor: Mit dem Preis in den Händen gestand er, für Jahre stets nur Brautjungfer gewesen zu sein, nun aber sei er zum ersten Mal endlich die Braut.

In den letzten Jahren war das Festival von Cannes verstärkt dafür kritisiert worden, seine Privilegien bevorzugt Männern zuzuteilen. Schon der anhaltende Mangel an Regisseurinnen im Wettbewerb belegt das, noch mehr allerdings die Tatsache, dass erst eine Frau als Regisseurin hier die Goldene Palme gewinnen konnte, ausgerechnet Jane Campion (1993 mit Das Piano), die dieses Jahr nun der Jury vorsaß. Mit der Verleihung des Grand Prix an die italienische Regisseurin Alice Rohrwacher für Le meraviglie wollte sie sichtlich ein Zeichen setzen. Der Film erzählt vom Aufwachsen eines Mädchens im ländlichen Italien. Angesiedelt in einer Landkommune, die von der Imkerei lebt, beeindruckte Le meraviglie das Publikum in Cannes mit erfindungsreicher Bildsprache, wurde aber eher freundlich denn begeistert aufgenommen.

Ganz anders verhielt es sich mit den beiden Filmen und Filmemachern, die ex aequo den Jurypreis erhielten. Es klang fast wie eine PR-Idee: Den Preis teilten sich mit dem 25-jährigen Kanadier Xavier Dolan und dem 83-jährigen Schweizer Jean-Luc Godard der jüngste und der älteste Regisseur des Wettbewerbs. Ihre Filme aber hätten kaum unterschiedlicher ausfallen können.

Das frankokanadische Regiewunderkind Xavier Dolan, das vor fünf Jahren mit I Killed My Mother in der Quinzaine des réalisateurs mit Paukenschlag die Weltbühne des Kinos betrat, eroberte mit seinem bereits fünften Film, dem emotional überbordenden Mommy, eine große Fangemeinde, die seinen stilistischen Wagemut und seine fein geschriebenen Frauenfiguren bewunderte. Godard hingegen begeisterte mit Adieu au langage vor allem seine eingeschworenen Fans mit einem experimentalen Essay-Film, der in schrägem 3D die Zukunft des Kinos, der Kunst und der Welt verhandelt. Wie argumentiert man gegen Zitate wie: »Immer wenn ich von Gleichheit rede, redest du von Kacke«? Godard übrigens, dem erstmals 1980 mit Rette sich, wer kann (Das Leben) das Privileg zuteil wurde, in den Wettbewerb geladen zu sein, hatte noch nie zuvor etwas gewonnen. Konsequenterweise erschien der Regiealtmeister weder zur Premiere seines Films noch zur Entgegennahme des Jury­preises.

Cannes Nachlese: die »Must-sees«

TIMBUKTU | Abderrahmane Sissako
Ein paar Jungs spielen Fußball, doch irgendwas stimmt da nicht: Sie jagen über den sandigen Platz, sie dribbeln, sie spielen sich zu – aber der Ball fehlt. Die Szene erinnert an die berühmte Tennispantomime aus Antonionis Blow-Up und löst eine ähnliche, beunruhigende Melancholie aus. Sissako, schon 2006 mit seinem eigenwilligen Weltbank-Film ­Bamako aufgefallen, erzählt in Tableaus von magnetischer Schönheit von einer Machtergreifung durch Dschihadisten und mischt dabei großes Kino mit sanfter Ironie und schockhafter Deutlichkeit.

Girlhood | Céline Sciamma
Die Französin Céline Sciamma machte 2011 mit ihrem Film Tomboy auf der Berlinale Furore, ihr neuer Film wurde zur Eröffnung der Quinzaine des réalisateurs gezeigt. Diesmal geht es um die 16-jährige Marieme, die als taffe schwarze Banlieue-Bewohnerin Mitglied einer Mädchenbande wird. Mit Empathie wird geschildert, wie gut sich das zunächst für sie anfühlt, auch wenn dazu gehört, andere, schwächere Schülerinnen um zehn Euro zu erpressen oder sie in Prügelduellen mit Entblößung bis zum BH zu demütigen – Beschämung als ultimativer Stärkebeweis. Sciamma zeigt dabei die Mädchengang nicht einfach als Kopie dessen, was man x-mal in amerikanischen Filmen in männlichen Versionen gesehen hat. Sie hat genau recherchiert und beobachtet: So stark sich die Gang auch gibt, so begrenzt bleibt die Macht der Einzelnen.

White God | Kornél Mundruczó
200 Hunde rennen im Rudel durch die Straßen von Budapest – wehe, wer sich ihnen in den Weg stellt! Kornél Mundruczó, bekannt von strengen Arthousefilmen wie Johanna oder Delta, hat einen Film gedreht, der sich am besten mit Genretiteln umschreiben lässt: Dawn of the Dog oder The Expendables: Part Dog. Tatsächlich ist der Hund Hagen, die Hauptfigur, ein klassischer »Expendable«: Ausgestoßen aus der bürgerlichen Familie landet er in der Gosse, muss mühsam das Überleben lernen, wird dann von neuen Herren in Knechtschaft zum Kampfhund ausgebildet und führt schließlich eine Rebellion unter den versklavten Hunden an. Allein für die logistische Meisterleistung, Action- und Massenszenen von großartiger Dynamik mit über 200 Hunden zu inszenieren, muss man Mundruczós mit politischen Untertönen versehene Genre­parodie bewundern.

Lost River | Ryan Gosling
So groß die Erwartungen waren, so böse waren im Anschluss an die Premiere die Kommentare. Und doch gehört Lost River wohl zu jener Art von Pleite, die den Autor, Ryan Gosling, unberührt lässt. Vielleicht auch deswegen, weil Gosling sich in jeder Szene stilistisch vor seinen Vorbildern Lynch und Winding Refn verneigt, und wer wollte ihm die Verehrung verübeln? Überambitioniert, mit viel Feuer, Wasser und düsterer Erotik will Lost River vom Untergang des amerikanischen Traums erzählen und läuft dabei ins Leere. Späterer Kultfilmstatus kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden.

THE SALT OF THE EARTH | Wim Wenders
Drei Stimmen und drei Perspektiven kommen in dieser Dokumentation zusammen: Wenders’ eigene, die seines Koregisseurs Juliano Ribeiro Salgado und die von dessen Vater, dem großen Fotografen Sebastião Salgado. Wenders erzählt von seinem Kennenlernen, zuerst des Werkes und dann des Mannes; der Sohn gibt kurze biografische Einsichten aus seinem Blickwinkel frei; zu 80 Prozent aber gehört der Film Salgado Senior, seinen Fotos und seinen Geschichten. Parallel zur Werkbiografie entsteht ein faszinierendes Bild der vergangenen 50 Jahre: Von den Hungerkrisen im Afrika der 70er über die Armut im Südamerika der 80er bis hin zu den Flüchtlingskrisen in der Sahel­zone und dem Völkermord in Ruanda in den 90ern. Auch wenn Wenders’ Kommentar in einzelnen Sätzen die Grenze zum Humanismuskitsch überschreitet, ist The Salt of the Earth ein ungeheuer kraft- und stilvolles Porträt eines faszinierenden Mannes.

Amour fou | Jessica Hausner
Heinrich von Kleist als Vollnerd, der Frauen mit der charmanten pick-up line »Willst du mit mir Selbstmord begehen?« zu umwerben versucht: Die Österreicherin Jessica Hausner (Lourdes) schildert die Geschichte von Kleists und Henriette Vogels Selbstmordpakt ohne falsche Modernisierungen und so klar durchdacht und präzis inszeniert, dass alles transparent wird: das Verstiegene, das Verwöhnte, die Verzweiflung und die Unverhältnismäßigkeit.

Whiplash | Damien Chazelle
Wer Drumsolos bislang nur als überflüssiges In-die-Länge-Ziehen eines Musikstücks hören konnte, wird diesen Film bekehrt verlassen: Ein junger Jazzdrum-Schüler liefert sich mit seinem unorthodox strengen Lehrer an einer Elitemusikschule ein Duell der Besessenheit. Bis aufs Blut. Der junge Miles Teller und vor allem der Nebendarstellerveteran J. K. Simmons verleihen ihren im Wechsel hochmütigen und dann wieder armseligen Figuren eine Intensität, vor der man sich fast wegducken möchte.BS

 

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