In der Hitze der Stadt
Für deutsche Verhältnisse war es ein Projekt der Superlative: Ein epischer Film von 500 Minuten Dauer, zehn Millionen Euro Produktionskosten, 120 Drehtage,
140 unterschiedliche Motive, 150 Sprechrollen aus verschiedenen Kulturen und Ländern, 30 Hauptdarsteller... Man muss schon bis zu Fassbinders »Berlin Alexanderplatz« zurückgehen oder zu Edgar Reitz’ »Heimat«, um ein annähernd vergleichbares Niveau zu finden, eine solche Breite des Erzählens, einen solchen Reichtum an Haupt- und Nebengeschichten, an Schauplätzen. Man braucht sich nicht zu scheuen, Vergleiche zu ziehen mit Coppolas Paten -Trilogie oder mit den großen amerikanischen Fernsehserien wie »The Sopranos«, wo es auch um einen Mafiaclan, oder »The Wire«, wo es auch um die Arbeit einer Polizeieinheit geht. Das Verblüffendste und Beeindruckendste an diesem episch wuchernden und zugleich tief bohrenden Werk ist, dass es ganz und gar deutsch ist, nur eben ohne die Enge, den Mief, die Biederkeit und die Langsamkeit der meisten deutschen Krimiproduktionen. Für Dominik Graf ist das Fernsehen schon seit Jahren das
bessere deutsche Kino: »Beim Fernsehen kannst du oft härtere, direktere Sachen machen als im deutschen Kino«, sagt er im Making-of, das man sich auf dieser
DVD-Ausgabe sehr viel länger und ausführlicher wünschte. Es geht um Familie und Verbrechen, um die russische Mafia und die deutsche Polizei, also um die Verstrickung von Loyalität und Verrat, von Liebe und Hass, von Achtung und Verachtung, von Ehrenkodex und Gier. Es geht um Drogengeschäfte, Zigarettenschmuggel, Mädchenhandel, Schutzgelderpressung und Prostitution im Umfeld der in Berlin-Charlottenburg angesiedelten Russenmafia. Zwischen den
Fronten steht der lettisch-jüdische Polizist Marek – und das war die zündende Idee des Produzenten Marc Conrad: man müsste eine Serie entwickeln, in der ein deutscher Polizist mit russischen Wurzeln Zugang zum sonst hermetisch abgeschlossenen Milieu der russischen Mafia bekommt. Über ein Jahr hat dann der Autor Rolf Basedow im Berliner Milieu recherchiert, so wie das sonst im Kino nur ein Perfektionist wie Michael Mann tut. Plötzlich gibt es da eine geradezu dokumentarische Authentizität der Charaktere und Orte, der Rituale und Gesten. Dabei wird der Film ganz nebenbei auch zu einem wunderbaren Porträt der Stadt Berlin, gesehen mit den wachsamen Augen dieser beiden Münchner. Immer wieder schweift die Kamera von ganz oben über die Stadt, blickt auf ihre pulsierenden Adern, um dann punktuell in die Intimität ihrer Orte einzutauchen. Entscheidend ist, dass die beiden Jungs im Zentrum eben nicht einfach nur das deutsche Streben
nach Recht und Ordnung antreibt, sondern hitzige Gefühle und feurige Leidenschaften. Bei Marek ist es der schwelende Hass auf den Mörder seines Bruders und die Liebe zu einer ukrainischen Hure, die vom besseren Leben in Deutschland träumte und in einen Mädchenhändlerring geraten ist. Bei Sven ist es der fiebrige
Ehrgeiz, den Sprung vom Streifendienst ins LKA zu schaffen, befeuert von einer sinnlichen Lust am Leben und der Sehnsucht nach einer besseren Welt. Zwischen Max Riemelt und Ronald Zehrfeld, die Graf schon in Der rote Kakadu zusammengebracht hat, gibt es eine wunderbare Chemie, die ihre Partnerschaft in vielen schillernden Farben aufschimmern lässt. Vor allem aber leistet sich dieser Film neben der Härte des Verbrechens und dem enormen Tempo und Drive des Erzählens eine geradezu schamlose Romantik, in großen Liebesgeschichten, ebenso wie in hitzigen Affären. Das ist ein wagemutiger Kontrast zur Krimigeschichte, der ihr zugleich ungeheure Seelentiefe gibt, weil es jenseits schnöder Gier nach Geld und Macht immer noch um etwas Größeres, Tieferes geht. Es gibt noch sehr viel mehr zu entdecken in diesen dichten, reichen 500 Minuten!
Anke Sterneborg
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