Kritik zu Unter den Sternen von Paris
Claus Drexel lässt zwei Figuren aufeinandertreffen, die beide auf je eigene Weise aus der Gesellschaft gefallen sind. Eine Clocharde (Catherine Frot) hilft einem Flüchtlingsjungen aus Eritrea, seine Mutter zu finden
Das nächtliche Paris ist so schön in diesem Film, dass es den Atem raubt. Die Stadt mutet verwunschen an, sobald sie ins goldene Licht der Straßenlaternen getaucht ist; erst recht im Winter, als sich der Schnee hauchdünn auf die Brüstungen am Seineufer und das Kopfsteinpflaster legt.
Das ist ein Privileg, das nur die Kamera erkennen kann. Die Obdachlosen haben keinen Blick dafür, für sie ist dies nur ein unwirtlicher Lebensraum, sie spüren die Kälte in ihren Knochen. Schon in seinem exzellenten Dokumentarfilm »Au bout du monde« von 2014 fing der Regisseur das Schicksal derer, die aus der Welt gefallen sind, in prachtvollen Cinemascope-Kompositionen ein. Schon da hielt er ein heikles Gleichgewicht zwischen Anmut und Elend; in seinem Spielfilm erschließt er sich ihre Lebenswelt jetzt als ein Märchen mit Widerhaken.
Das französische Kino betrachtete den Clochard lange Zeit als eine romantische Figur; Michel Simon und Jean Gabin erspielten ihm komödiantische Würde. Mit »Versailles« von Pierre Schoeller wird 2008 der Blick auf ihre Alltagswirklichkeit endgültig nüchterner: Ihre Anarchie bleibt bestehen, aber die Misere lässt sich nicht verklären. Endgültig heißt aber in diesem Fall nicht unwiderruflich. Catherine Frot spielt die Clocharde Christine in altmodischer Manier, zunächst als schroffe Einzelgängerin, deren Vorleben verbrannt ist. Einst war sie, das erfährt man später, als Wissenschaftlerin in Grenoble tätig. Nun versucht sie zu überleben. Sie geistert wie eine Hexe durch die moderne Metropole, haust in einem Unterschlupf unter der Metro und ernährt sich bei Armenspeisungen in der Kirche. Eines Tages dringt ein achtjähriger Junge (Mahamadou Yaffa) in ihre Welt ein, der Suli heißt, mit seiner Mutter aus Eritrea geflohen ist und kaum ein Wort Französisch spricht. Zunächst erwehrt sie sich brüsk der Verantwortung und Wärme, die nun in ihr Leben getreten sind. Aber dann unternimmt sie alles, um ihrem Schutzbefohlenen bei der Suche nach seiner verlorenen Mutter zu helfen.
Drexel geht alle Risiken des Wohlmeinens ein. Die Zeichnung der Figuren und Konflikte ist rechtschaffen schematisch – Unterstützung leisten in der Regel nur die, die selbst unterprivilegiert sind –, aber sein Humanismus ist nicht nur sentimental, sondern robust genug, um Nuancen zu finden. In seiner zweiten Hälfte entwickelt der Film eine vitale Spannung, wird ein Rennen gegen die Zeit – Sulis Mutter soll nach Österreich abgeschoben werden. Der Blick auf die Stadt verändert sich bei der Suche nach ihr, wird nun unerbittlicher, schafft aber auch Freiräume des Poetischen. Das ist nicht frei von Kitsch (ein Clochard singt im Licht des Vollmonds Schubert-Lieder), Suli darf jedoch auch echte Magie in der urbanen Alltäglichkeit entdecken. Drexel schmiedet ein enges Band zwischen seinen zwei Hauptfiguren, die beide auf eigene Weise unwillkommen sind in Paris. Er zeichnet sie als tapfere Lebenshelden, die den Widerständen verzweifelt trotzen wollen. Aber er verliert nie aus den Augen, dass er letztlich eine Geschichte des Verschwindens erzählt.
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