Kritik zu Über das Meer
Arend Agthe rekonstruiert in seinem Dokudrama eine DDR-Flucht über die Ostsee als mit Mut und Mühen erkämpften Sieg über ein totalitäres System
Die DDR war für Erhard Schelter ein Gefängnis. Dem 1940 geborenen Schiffselektriker war es unter anderem aus »kaderpolitischen Richtlinien« verwehrt, seinen größten Lebenstraum zu verwirklichen: zur See zu fahren. Als er einmal in Jeans zum »sozialistischen Fahnenappell« erschien, schickten sie ihn nach Hause. Der Zudringlichkeiten der Staatssicherheit, die ihn für sich einspannen wollte, wusste er sich zu erwehren; er wollte kein Denunziant sein. Keine guten Voraussetzungen für eine Karriere im Arbeiter- und Bauernstaat.
1974 entwickelt Schelter einen Plan, um aus dem »Gefängnis DDR« auszubrechen. In der Nacht vom 21. auf den 22. September begibt sich Schelter gemeinsam mit dem zehn Jahre jüngeren Volker Hameister in die Fluten der Ostsee. Ein kühnes Unternehmen mit einem einzigen Ziel: Freiheit. Arend Agthe (Buch und Regie) rekonstruiert in seinem Dokudrama Über das Meer – Die DDR-Flucht des Erhard Schelter einen Triumph des Willens. Der Beginn des Films ist angemessen düster und spannungsvoll. Hanno Harts Kamera zeigt in einer nachgestellten Szene die von Björn Bugri (Schelter) und Christian Arnold (Hameister) verkörperten Flüchtlinge bei ihren Vorbereitungen. Die emotional aufgeladene Musik von Mathias Raue akzentuiert die Dramatik des Augenblicks.
Arend Agthe hat mit Schelter und seiner Familie viele Gespräche geführt. Volker Hameister hat der Regisseur nicht aufspüren können. Auch nach fast 40 Jahren sind der 21. und der 22. September 1974 für Schelter vollkommen gegenwärtig. Schelter ist Hauptfigur und Motor des Films: ein geborener Erzähler, ein theatralisches Temperament ohne Kamerascheu. In launigem Ton kann er über viele der Begleitumstände seiner todesmutigen »Republikflucht« sprechen, die ausgeklügelte Logistik, das Trainingsprogramm des geübten Schwimmers. Und über das Glück, das Hameister ihm zur Seite stand. Schelters Erinnerungen und die Kraft des Wortes wirken stärker nach als symbolhafte Bilder vom Meer und die nachgestellten Spielszenen. Zeit- und Gesellschaftsgeschichte werden in der Person dieses Mannes exemplarisch. Er erscheint von Rage erfüllt, wenn er von den Schikanen der DDR-Staatsorgane erzählt, von den vielen kleinen Demütigungen im Alltag. Sein Durchhaltevermögen in der eiskalten Ostsee kann man als Reflex auf diese Erfahrungen verstehen. Er habe »alles reingelegt, was ich nur konnte«, sagt Schelter über seine Flucht.
Auch die Helfer Schelters erzählen ihre Geschichte, zum Beispiel seine Schwester Roswitha. Auch sie kann sich als Siegerin fühlen. Aber dann sind da auch Molltöne, etwa die Tatsache, dass Schelter Frau und Sohn zurückließ – der Anfang vom Ende der Ehe. Der Epilog zu seinem Triumph hat durchaus einen bitteren Beigeschmack, daran mogelt sich Agthes Film nicht vorbei. Aber dennoch ist das Ende glücklich für Erhard Schelter. Als er endlich das »Riesen-Gefängnis« DDR hinter sich gelassen hatte und seine Mutter wiedersah, drückte er sie so enthusiastisch, dass zwei ihrer Rippen fast brachen.
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