Kritik zu Türkisch für Anfänger
Als Sitcom schrieb die von Bora Dagtekin für die ARD kreierte Serie bereits Fernsehgeschichte. Auch bei der Umsetzung für die große Leinwand nimmt sich der Autor und Regisseur im deutschen Kino selten gewordene Freiheiten heraus
Als die Turbulenzen beginnen, schlafen fast alle Passagiere des Fluges von Berlin nach Thailand. Auch die Abiturientin Lena hat endlich etwas Ruhe gefunden. Sie wollte auf keinen Fall neben ihrer extrovertierten Mutter Doris sitzen und ist neben Cem, einem 21-jährigen türkischen Macho, gelandet. Der Gedanke, die Turbulenzen, der anschließende Ausfall eines Triebwerks und schlussendlich die Notlandung mitten im Indischen Ozean seien nur ein Alptraum Lenas, liegt nahe.
Doch das Flugzeug stürzt tatsächlich ab. Die Katastrophe endet allerdings eher glimpflich. Fast alle Passagiere, unter ihnen auch Doris und Cems Vater, der Berliner Polizist Metin, werden aus dem Wasser geborgen und in eine Hotelanlage verfrachtet. Nur das Rettungsboot, in das sich Lena, Cem, dessen 18-jährige Schwester Yagmur und der auch aus Berlin kommende Grieche Costa geflüchtet haben, wird abgetrieben und an den Strand einer dann doch nicht ganz so einsamen Insel gespült.
Lena und Cem, Doris und Metin, Yagmur und Costa waren auch schon die Protagonisten der erfolgreichen Sitcom »Türkisch für Anfänger«. Doch von dieser Vorgeschichte hat ihr Schöpfer Bora Dagtekin sie für das Kinodebüt befreit. Die Zeichen stehen noch einmal auf Anfang; und so lernen sich die beiden Teilfamilien erneut kennen, zunächst an einer Ampel in Berlin und dann im Flugzeug nach Thailand.
In Hollywood gehören Kinoadaptionen berühmter Fernsehserien schon lange zum Alltag. In Deutschland hat sich Dagtekin mit diesem Schritt vom Bildschirm auf die große Leinwand dagegen auf weitgehend unerforschtes Neuland begeben – und im Wissen um die Popularität der Serie Freiheiten genommen, die für das deutsche Kino alles andere als typisch sind.
Das beginnt mit dem Flugzeugabsturz aus heiterem Himmel und setzt sich dann nahtlos damit fort, dass die ewige Teenagerin Doris eigentlich ganz froh über das Verschwinden ihrer Tochter ist. So hat sie, die immer auf der Suche nach Partys ist, keine Aufpasserin an ihrer Seite. Aber auch die Abenteuer und Verwicklungen auf der Insel folgen einer beinahe schon surrealen Logik, die sich klassischen storytechnischen Konventionen fortwährend entzieht. Natürlich glauben die vier Gestrandeten, als sie schließlich einigen Ureinwohnern begegnen, unter Kannibalen geraten zu sein. Die Wahrheit über die Inselbewohner ist allerdings noch viel skurriler und schlägt noch einen Bogen zurück nach Deutschland.
Nichts ist unmöglich oder undenkbar in Dagtekins Spielfilmerstling. Aber so verrückt seine inszenatorischen Einfälle und satirischen Ausfälle gegen spinnerte Alt-68er und spießige türkische Beamte, gegen frauenfeindliche Möchtegern-Rapper und bizarre Kopftuch-Mädchen, gegen verklemmte, neo-konservative Jugendliche und den deutschen Wahnsinn an sich auch sind, sie alle haben Sinn und Methode. Und wenn sich dann auch noch eine 44-Jährige für ihr pubertäres Verhalten mit einer Karaokeversion von Britney Spears »I'm Not a Girl« entschuldigt, dann erweist sich dieser anarchische Unfug endgültig als eine höchst subversive Parodie auf die irrwitzigen Wechselwirkungen von Wirklichkeit und Popkultur.
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