Kritik zu Sweetgrass
So sinnlich können Schafe sein: Ein Dokumentarfilm über die letzten Schafhirten, die mit ihren Herden die Sommermonate auf den Wiesen der Beartooth- Berge in Montana verbringen, wird zur Elegie auf den amerikanischen Westen
Dies ist ein Film, in dem man sich im Schafezählen üben kann und entdeckt, dass das keinesfalls einschläfernd wirkt. Im Gegenteil. Zu sehen gibt es Schafe, die auf eingeschneiten Feldern nach Gras forschen, Schafe, die geschoren werden, Schafe, die gebären, junge Schafe, die fröhlich querfeldein hüpfen, alte Schafe, die gemächlich über den Gebirgskamm trotten, und einmal sogar Schafe, die in der Nacht von Bären angegriffen werden. Wobei man ehrlich gesagt an dieser Stelle nur wenig von den Schafen sieht, und auch auf die Bären erhascht man nur einen kurzen Blick im Scheinwerferlicht einer Leuchtrakete, die die Schafhüter losschießen, um besser zielen zu können. Umso aufregender erscheint die Szene. Und obwohl man sie fast nur als huschende Schatten wahrnimmt, muss man doch staunen über die Flinkheit, mit der sich die Bären mit ihren großen, so schwerfällig wirkenden Leibern davonmachen können.
Das klingt jetzt fast so, als handle es sich bei »Sweetgrass« um eine jener Naturdokus im Discovery-Channel-Format, aber das wäre ein großes Missverständnis. »Sweetgrass« ist im herkömmlichen Sinne ein Dokumentarfilm – was unbedingt als Kompliment zu verstehen ist. Wobei man sein eigentliches Thema, sozusagen die Motivation dieses Films, erst im Abspann auf einer Schrifttafel erfährt: Die Regisseure Ilisa Barbash und Lucien Castaing Taylor liefern hier Bilder vom letzten Mal, dass die Hirten der Beartooth-Berge in Montana ihre Schafherden auf die Sommerweiden in den Höhen treiben. Die Gründe dafür, warum diese seit dem frühen 19. Jahrhundert gepflegte Praxis inzwischen aufgegeben wurde, bleiben ungenannt. Es wird das Übliche sein: Der Aufwand rentiert sich nicht mehr – was müssen Schafe »sweetgrass« fressen, wenn es doch billiger ist, sie in festen Ställen mit preiswertem Futtermais hochzupäppeln? Erst am Ende also wird einem bewusst, dass der Film einen zum Zeugen einer untergehenden Kultur macht.
Doch der große Reiz dieses Films besteht nicht nur in diesem Aspekt des »Nie mehr wieder!«, sondern in der Ruhe, und ja, der Unsentimentalität, mit der hier eine Lebensart studiert wird. Die Schafe, die wie ein kollektives Wesen, wie ein sanftes, kompaktes Meer die unterschiedlichen Landschaften »fluten«, über Wälder, Hügel, Stein und Täler hinweg, sind das Zentrum einer Kultur, in der Mensch und Natur noch einen organisch verzahnten Zusammenhang bilden, der nicht nur vom ausbeuterischen Interesse der einen Seite bestimmt wird. Auch die Landschaft scheint zu profitieren von dieser »extensiven« Nutzung. Es sind die Schafe, die hier das Tempo vorgeben; ihnen passen sich die Hirten an, wenn sie sich auf ihre Pferde schwingen, und nur sanft wird manchmal der Druck erhöht, um die Herden anzutreiben.
Der Film kommt ohne Kommentar aus. Jede Einstellung hat ihren Originalton, in dem natürlich meist das Blöken dominiert, ab und an von Motorgeräuschen oder den Rufen der Männer übertönt. Und es passiert etwas Seltsames: Das Geräusch wächst einem regelrecht ans Herz, wie einem auch diese scheinbar so geduldigen Tiere ans Herz wachsen, nicht als süße Individuen, als die sie eine herkömmliche Naturdoku vielleicht zeigen würde, sondern als Spezies mit besonders ausgeprägtem Gemeinschaftssinn.
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