Kritik zu Sleep with your Eyes Open
Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit dokumentarischem Stil erforscht Nele Wohlatz das Gefühl der Verlorenheit in der Fremde
Reisen, Urlaub, fremde Länder erkunden: Was für viele ein Traum ist, wird für die Taiwanesin Kai (Liao Kai Ro) eher zur Qual. Eigentlich wollte sie mit ihrem Freund in Recife Urlaub machen. Doch dieser hat kurz vorher mit ihr Schluss gemacht, weswegen Kai nun alleine in der brasilianischen Hafenstadt ist. Zu allem Überfluss ist ihr Handy kaputtgegangen und die Lüftungsanlage im Hotelzimmer raubt ihr den Schlaf. In einem Laden für Regenschirme stößt sie auf eine Kiste mit Postkarten. Sie sind von Xiao Xin (Chen Xiao Xin), einer Chinesin, die für eine Weile in Recife gelebt hat, um im Importhandel ihrer Tante zu arbeiten. Auf den Postkarten hat Xiao Xin ihre Eindrücke über das Leben in Recife festgehalten, wo sie zusammen mit anderen chinesischen Gastarbeiter:innen im 18. Stock eines Hochhauses wohnte. Vor einigen Jahren bereits hatte sie ihre Heimat verlassen und war nach Argentinien gezogen, nun die nächste fremde Stadt, in der sie die Sprache nicht versteht und alles so anders ist. Kai kann sich in Xiao Xins Ausführungen über die Überforderung in der Fremde emotional gut wiederfinden.
Die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz, die viele Jahre in Argentinien gelebt und für den Film in Brasilien recherchiert hat, entwirft im Grunde zwei Filme in einem. Kais Erlebnisse fungieren als Rahmenhandlung am Anfang und am Ende, in der Mitte wechselt der Film zu Xiao Xins Geschichte, deren Berichte von den Postkarten immer wieder aus dem Off zu hören sind. Wohlatz Stil ist stark dokumentarisch, viele der Darsteller:innen sind Laien. Die oft langgezogenen, mal melancholischen, mal komödiantischen Szenen wirken unspektakulär, aber sie verhandeln in alltäglichen Details große Themen: Gefühle von Fremdheit, Sprachbarrieren, kulturelle Missverständnisse, Stadtwandel und die Frage, wo die eigene Heimat ist.
Fu Ang (Wang Shin-Hong), der als einer der Gastarbeiter und späterer Betreiber des Regenschirmladens zur verbindenden Person wird, erzählt, wie rasant sich seine chinesische Heimat verändert. Dass er sich trotzdem nach ihr zurücksehnt, zeigt die innere Zerrissenheit, die viele Migrant:innen umtreibt. In der Freundschaft zwischen Fu Ang und Xiao Xin wird aber auch deutlich, wie menschliche Verbindungen ein Gefühl der Vertrautheit wiederbringen können.
Wohlatz schlägt mit »Sleep with Your Eyes Open« einen Bogen zu ihrem Debütfilm »El Futuro Perfecto«. In diesem hatte sie 2016 ihre Begegnungen mit chinesischen Migrant:innen in Buenos Aires verarbeitet. Dass eine solche Migrantin nun in einer weiteren fremden Stadt landet, erscheint wie eine Art Fortsetzung, die die Perspektiven noch einmal erweitert. Natürlich sind die Umstände der Migrant:innen nicht die einer Urlauberin, auch die Erfahrungen, die Wohlatz in ihrer Zeit in Argentinien gemacht hat, sind nicht dieselben. Was »Sleep with Your Eyes Open« erforscht, ist jedoch ein Gefühl des Fremdseins und der Verlorenheit, das sich trotz unterschiedlicher Umstände über Kulturgrenzen hinweg spiegeln kann.
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