Kritik zu She's Lost Control
Eine junge Frau arbeitet als »Sexual Surrogate« mit Männern, die vor Intimität zurückschrecken. Anja Marquardt zeichnet in ihrem Spielfilmdebüt das düstere Porträt einer atomisierten Gesellschaft
Ein Leben wie auf Eis gelegt. Ronah, die an ihrer Abschlussarbeit in Verhaltenspsychologie arbeitet, lässt sich nicht nur ihre Eizellen für die Zukunft einfrieren. Auch alles andere in ihrem täglichen Sein ist einer vagen Vorstellung davon untergeordnet, wie es einmal sein könnte, in ein paar Jahren vielleicht. Es hat etwas Schmerzliches und Verstörendes, mit anzusehen, wie sich die von Brooke Bloom konsequent unterspielte Ronah von der Welt isoliert. Die Gegenwart ist für sie in Anja Marquardts strengem Spielfilmdebüt etwas, das sie irgendwie aushalten muss. Nur endet die Gegenwart nun einmal nie. Sie verschluckt einfach die Zukunft und damit auch das Leben, nach dem sich Ronah verzehrt.
Ronahs Welt ist ein Gespinst aus Ausflüchten und Illusionen, gut gemeinten Lügen und emotionalen Spielchen. Als »Sexual Surrogate« ist sie eine Art Therapeutin, die sich Männern mit Bindungsängsten für anderthalb Stunden als Ersatzpartnerin zur Verfügung stellt. Mit ihr können sie in einem geschützten, vertraglich geregelten Rahmen ihre Angst vor körperlichem Kontakt überwinden. Während ihrer Sitzungen, die ihr ein Psychotherapeut vermittelt, lebt Ronah eine Intimität, die ihr in Wahrheit auch selbst gänzlich fremd ist.
Letztlich liegen Ronahs Schwächen und Störungen offen da. Nichts verbirgt sie, und doch ist es nahezu unmöglich, sich ihrer verqueren Welt zu entziehen. Auf eine faszinierende, aber auch ungeheuer irritierende Weise verschmelzen Film und Figur. Wie Ronah in ihren Therapiesitzungen sucht auch Anja Marquardt die größtmögliche Nähe zu ihren Figuren. Zack Gallers Kamera rückt ihnen auf eine teils schon unangenehme Weise auf den Leib. So filmt er Ronah, die sich selbst eine Spritze setzt, in Großaufnahme. Das Bild brennt sich ein, zumal lange unklar bleibt, was es mit diesen Spritzen auf sich hat. Entscheidend ist alleine das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.
Aber trotz dieser extremen Nähe ist es nahezu unmöglich, an Ronah heranzukommen. Die emotionale Distanz bleibt. Während sie und einer ihrer Patienten, der zu aggressiven Ausbrüchen neigende Johnny (Marc Menchaca), sich in einem Netz aus simulierter Intimität verlieren, wird einem Ronah letztlich immer fremder. Ihr Versuch, Johnny und ihre Umwelt zu kontrollieren, geht mit Anja Marquardts Bestreben einher, den Betrachter so tief wie eben möglich in diese Welt atomisierter Einzelner hineinzuziehen.
Im Endeffekt ist She’s Lost Control eine einzige Manipulationsmaschinerie. Jedes Bild wird zum Dokument einer Gesellschaft, die diesen Namen kaum noch verdient. Die Gefühle von Einsamkeit und Haltlosigkeit, die Marquardt mit der ganzen Macht des Kinos heraufbeschwört, sind so überwältigend, dass sie Widerstand provozieren. Nicht nur Johnny entzieht sich Ronah und wendet sich schließlich gegen sie. Auch dem Betrachter bleibt nichts anderes, als sich zu widersetzen. »She’s lost control«, das gilt auch für Anja Marquardt, die an die Grenzen der Möglichkeiten des Kinos stößt und damit seine Mechanismen offenlegt.
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