Kritik zu Reich mir deine Hand
Zwei Brüder durchqueren Frankreich auf ihrem Weg in den Süden. Der französische Regisseur Pascal-Alex Vincent verbindet Roadmovie und Geschwisterdrama zu einer ambitionierten Meditation
Ein junger Mann klopft an die Scheibe einer Bäckerei und winkt einem Gleichaltrigen. Der lässt seine Arbeit fallen, und im Laufschritt verschwinden beide aus der Stadt: Mit dieser rasanten Zeichentricksequenz im Stil eines Anime startet Regisseur Pascal-Alex Vincent sein Roadmovie. Es erzählt, wie die 18-jährigen Zwillinge Antoine und Quentin (Alexandre und Victor Carril) Hals über Kopf den Laden ihres Vaters irgendwo in der französischen Provinz verlassen, um im baskischen San Sebastian an der Beerdigung ihrer Mutter teilzunehmen. Die beiden verbindet eine brüderliche Hassliebe, die sich häufig in aggressiven Raufereien Ausdruck verleiht; zu einer anderen Art der Kommunikation sind sie nur in seltenen harmonischen Momenten fähig; ihre Wortwechsel sind so knapp wie die Dialoge der anderen Figuren des Films.
Auf ihrem Weg nach Süden, mal als Schwarzfahrer auf einem Zug oder versteckt auf einem Lastwagen, mal als Tramper, begegnen ihnen allerlei Menschen, die mit ihrer Lebenssituation gleichfalls unzufrieden sind. Mit der jungen Tankstellenbediensteten Clementine (Anaïs Demoustier), die sich ihnen vorübergehend anschließt, erleben beide ein ebenso beiläufiges sexuelles Intermezzo wie mit zwei anderen Frauen, die sie in ihrem Auto mitnehmen. Emotionen flammen nur kurz auf, als Quentin sich auf einem Bauernhof auf eine Affäre mit dem Erntehelfer Hakim (Samir Harrag) einlässt. Die Wege von Antoine und Quentin trennen sich vorübergehend. Antoine wird nach einem Unfall im Wald von einer älteren Frau gepflegt, von der er sich verführen lässt. Und so könnte der Reigen sich endlos fortsetzen, würden die beiden nicht irgendwann am Grab der Mutter wieder zu sammentreffen, versöhnt zunächst, um sich dann wieder zu raufen, bis Antoine kein Lebenszeichen mehr von sich gibt . . .
»Donne-moi la main« – der Filmtitel bezieht sich auf den Refrain eines französischen Chansons – ist der erste Langfilm von Pascal-Alex Vincent. Und er gibt sich, wie viele Erstlingsfilme, sehr ambitioniert. Vincent arrangiert ihn, unterlegt mit den suggestiven Klängen der Berliner Gruppe Tarwater, als eine Art experimentelle Meditation über Verwandtschaften und Wahlverwandtschaften, über Liebe und Eifersucht, Hass, Neid und Gewalt. Die von Alexis Kavychine gefällig eingefangenen Naturkulissen – von impressionistisch hingetupften Blumenwiesen bis hin zu dunklen und bedrohlichen Wäldern – spiegeln die Seelenlandschaft der beiden Protagonisten, die meist düster vor sich hinbrütend ihren Weg gehen. Die Wortkargheit und mimische Unbeweglichkeit der Hauptdarsteller geht dabei allerdings auf Kosten der psychologischen Plausibilität und bremst das Anfangstempo des Films ab, ebenso die ermüdende schematische Strukturierung der Handlung durch die diversen amourösen Begegnungen. So mutet das, was als eine »Geschichte um das Erwachsenwerden« gedacht war, die sich mit der Frage befasst »Wie wird ein Mensch zum Individuum?« (Vincent), bisweilen eher wie eine Studie über Autismus an.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns