Kritik zu Reality
In Form eines True-Crime-Films nach Originalaufzeichnungen des FBI inszeniert Tina Satter die Verhaftung der Whistleblowerin Reality Winner
»Reality«: Der Titel ist mehrdeutig. Zunächst ist schlicht die real existierende Hauptfigur namens Reality Leigh Winner gemeint, eine junge Frau, die 2016 als Sprachanalystin für die NSA arbeitete und geheime Informationen über Russlands Einflussnahme auf den US-Wahlkampf an die Nachrichtenwebsite »The Intercept« weiterleitete. Dass eine Whistleblowerin ausgerechnet den Namen Reality Winner trägt, ist bittere Ironie, denn Winner wurde zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt. Gleichzeitig kann man den Titel auch als Anspielung auf die Machart des Films verstehen. Dessen Dialoge sind, wie bereits beim ebenfalls von Regisseurin Tina Satter inszenierten Theaterstück »Is This a Room«, aus einer Tonbandaufzeichnung des FBI übernommen.
Das Geschehen setzt ein, als ein FBI-Trupp Reality Winner (Sydney Sweeney) an ihrer Haustür abfängt und ausgestattet mit Durchsuchungsbeschluss beginnt, das Haus zu durchkämmen und Beweismaterial zu beschlagnahmen. Die zwei leitenden Ermittler führen schließlich eine Befragung in einem leerstehenden Abstellraum des Hauses durch.
Tina Sattler präsentiert ihre Adaption der historischen Ereignisse als ein auf Dialoge fokussiertes Kammerspiel. Langeweile kommt trotz wenig Handlung nicht auf, denn »Reality« wird zu einer hoch spannenden Auseinandersetzung über die Verhörtaktiken des FBI. Lange lassen die Ermittler Reality im Unklaren, worum es geht und welche Informationen sie haben, geben sich freundlich und lassen alles harmlos erscheinen, nur um Reality nach und nach in Bedrängnis zu bringen.
Satter hält sich exakt an die Aufzeichnungen, übernimmt auch gelegentliches Husten und Versprecher und unterstreicht das Ganze durch Einblendungen der Original-Audioaufnahmen sowie des schriftlich festgehaltenen Protokolls. Zensierte Teile kennzeichnet sie, indem die Dialoge aussetzen und die Personen unsichtbar werden. Dieser verfremdende Effekt macht klar, dass hier eben nicht die ganze Realität, sondern nur ein Ausschnitt zu sehen ist.
Zudem ist »Reality« nicht einfach eine szenische Wiedergabe, sondern nutzt in hohem Maße seine filmischen Mittel. Die Kamera unterstreicht die Kräfteverhältnisse des Verhörs dadurch, dass sie Reality immer wieder aus leichter Ober- und die Ermittler aus der Unterperspektive zeigt. Von der stark spielenden Sydney Sweeney gibt es häufig Close-ups, in denen Realitys wachsende Anspannung und Verzweiflung greifbar wird. Zudem werden originale Fotos und Instagram-Posts von Winner sowie Ausschnitte aus Fernsehsendungen der damaligen Zeit eingeblendet, wodurch der Film auf die realen Ereignisse verweist und Reality als Persönlichkeit näherbringt, die gern Sport macht, Tiere liebt und reist.
Der Film wirft die Frage auf, wie objektiv er in der Wiedergabe der Geschehnisse sein kann. Trotz deutlicher Sympathien für seine Hauptfigur überlässt »Reality« es den Zuschauer:innen, sich ein eigenes Urteil zu den Ereignissen zu bilden.
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