Kritik zu Man tänker sitt
Ein Mikrokosmos, in dem Baugenehmigungen die Gespräche bestimmen: Die schwedischen Regisseure Henrik Hellström und Fredrik Wenzel schildern eine Art IKEA-Idyll und seine Brüche aus der Sicht eines 11-Jährigen
Wie bei Google-Earth schraubt sich die Kamera langsam in das schwarz-weiß-negative Bild einer parzellierten Wohnsiedlung; aus dem Off erklärt eine Kinderstimme, dass dort an der Straße ein Mischa, drüben Anders und gegenüber Jimmy wohne. Wie ein Straflager sieht die Kästchenansammlung von oben aus, drumherum dichter Wald. Ein Zoom, bis nur noch ein Block der Siedlung im Bild zu sehen ist, jetzt wird auch sichtbar, dass Bäume und Standardhäuschen nicht fotografiert, sondern mit dem Zeichenstift als akkurater Masterplan gesetzt wurden. Dann Stopp – und ein Schnitt auf die terrestrische Perspektive, wo eben jener Jimmy mit einem kleinen Kind auf dem Arm hinter einer der vielen Hecken heranläuft.
Die beschriebene Szene ist visuell eher untypisch für einen Film, der sonst mit atmosphärischen Bildern und einer impressionistisch lyrischen Montage betört. Doch sie ist auch symptomatisch: Denn die mit ihren Einfamilienhäuschen und Vorgärten wie aus der umgebenden Wildnis herausgestanzte Waldsiedlung steht neben dem kleinen Sebastian im Zentrum des Films. Hier lebt der sommersprossige und scheue Junge mit seiner Mutter, hier leben auch die Männer, die er beobachtet: Jimmy, der symbiotisch mit dem Kind auf seinem Arm verschmolzen scheint. Der kernige Anders, der an einem neuen Carport baut. Und Mischa, ein Gastarbeiter, der beim Fischen von den Nachbarn misstrauisch beäugt wird: Alle drei Fremdkörper in einem wohlgeordneten Mikrokosmos, wo Baugenehmigungen die Gespräche bestimmen und am Ortsrand eine Lidl-Leuchtreklame als künstlicher Mond über dem Parkplatz leuchtet. Eine zwischen nachbarschaftlichen Über- und fürsorglichen Eingriffen durchorganisierte Welt, in der sich der kleine, altkluge Sebastian wie ein Traumwandler bewegt.
Es sind wenige prägnante Details über die Männer, die wir aus seiner sporadischen Off-Erzählung erfahren, die den Film begleiteten: Zwischen Alltagsbeobachtungen mischen sich dabei räsonierende Sentenzen aus dem Werk des amerikanischen Gesellschaftskritikers Henry David Thoreau, die sich ebenso als verfremdete Fragmente eines auktorialen Kommentars wie Verstärker von Sebastians Entfremdung verstehen lassen (Man Tänker Sitt hieße übersetzt etwa »Mannes eigene Gedanken«).
Eine kausale Plotlogik gibt es ebenso wenig wie Suspense oder billige Horroreffekte, die knappen Wortwechsel werfen Schlaglichter auf Momente gestörter Kommunikation, akzentuiert von einem klug gesetzten Soundtrack aus den sakral minimalistischen Kompositionen von Erik Enocksson. Wie Thoreau in sein Blockhausrefugium ziehen sich auch die Protagonisten von »Man Tänker Sitt« in die Natur zurück, die Kamera zunehmend hypnotisiert von stillen Wassern und Urwald-Geäst, in denen die Menschen sich auflösen. Ist das auch die Erlösung? Oder nur ein anderer Alptraum? »Man Tänker Sitt« gibt dem Zuschauer die Freiheit, mögliche Antworten selber zu ersehen und erhören. Als Hellström und Wenzel ihr Debüt 2009 auf dem Berlinale-Forum vorstellten, wurde es wegen seiner souveränen und innovativen Filmsprache begeistert gefeiert. Die funkelt auch zwei Jahren später noch wie neu.
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