Kritik zu LʼChaim – Auf das Leben!
Elkan Spillers Dokumentarfilm über seinen Cousin Chaim Lubelski zeigt, wie die Shoa die Überlebenden und ihre Nachkommen unauflöslich aneinander bindet
Ein Name wie ein Programm: »Auf das Leben!« lautet die Übersetzung von Chaim Lubelskis Vornamen. Dem Leben hat der Mann, der aussieht wie ein Althippie, nach eigenem Bekunden vieles abgerungen. Er verdiente sich in St. Tropez als Schachspieler seinen Lebensunterhalt, war erfolgreicher Geschäftsmann in New York, bis er seine Millionen verspekulierte; zuvor hatte er sich schon von Europa bis nach Afghanistan durchgeschlagen, unter anderem als Kleindealer. Von all dem gäbe es viel zu berichten, doch der Kölner Dokumentarist Elkan Spiller, ein jüngerer Cousin von Chaim Lubelski und ebenfalls Nachkomme von Überlebenden, erzählt eine andere Geschichte. Sie handelt von den Jahren, die Lubelski seine erfülltesten nennt: die Zeit, die er – damals 63 Jahre alt – mit seiner Mutter Nechuma in dem kleinen Apartment eines jüdischen Altersheims in Antwerpen verbringt. Spiller begleitet seine Protagonisten bei den täglichen Verrichtungen. Die Nähe des Filmemachers zu seinen Verwandten vermittelt sich dem Zuschauer, der gewissermaßen mit am Tisch sitzt und Zeuge eines innigen, spannungsvollen, von humorvollen Sticheleien geprägten Mutter-Sohn-Verhältnisses wird.
Ein Humor, um der Verzweiflung zu begegnen: Im Konzentrationslager habe man ihr gleich am ersten Tag die Haare abgeschnitten, sagt Nechuma. Das sei heute auch wieder modern, antwortet der Sohn. Als tägliche Lektüre wünscht die Mutter die »Bild«-Zeitung, da seien weniger Todesanzeigen drin. Die Erinnerung an das Lager, an die Ermordung der Angehörigen, ist dabei allgegenwärtig, nicht nur bei der Mutter. »L’Chaim – Auf das Leben!« ist auch ein Film über die Traumata der zweiten Generation. Schon als Kind musste Lubelski dem im KZ schwer misshandelten Vater beistehen, der seine Schmerzen selbst mit Morphium kaum ertrug. Nach dessen Tod widmet er sich ganz der Mutter. Um ihr weiteren Schmerz zu ersparen, verschweigt Lubelski den Tod seiner Schwester, die an einer Überdosis von Medikamenten starb. Der Ambivalenz in der Beziehung geht der Filmemacher – wohl aus Respekt vor seinen Protagonisten – nicht ausdrücklich nach. Doch ist die wechselseitige Abhängigkeit von Mutter und Sohn offensichtlich. Seiner Mutter einen möglichst glücklichen Lebensabend zu verschaffen, gibt dem Leben des Sohnes einen Sinn, den er an den vielen Fluchtpunkten seines rastlosen Daseins nicht gefunden hat.
Aus der Fülle des gedrehten Materials hatte Elkan Spiller bereits 2009 einen preisgekrönten Kurzfilm erstellt (»Mama, L’Chaim!«). Die Langversion hätte einiger dramaturgischer Straffungen bedurft. Doch lassen die wortreichen Ausführungen Lubelskis spüren, dass hier einer um sein Leben redet – und auch mit ungezählten Joints seiner Angst nicht entkommen kann. »L’Chaim« ist, dem Titel und vielleicht auch den Intentionen des Regisseurs zum Trotz, kein Hohelied auf das Leben, sondern ein Film über die Unmöglichkeit, das Unvorstellbare zu bewältigen. Die Bilder von den letzten Monaten der Mutter, in denen das Grauen des Lagers wieder mit aller Macht von ihr Besitz ergreift, sind von herzzerreißender Traurigkeit.
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