Kritik zu Kolyma
Stanislaw Mucha hat den einsamen Nordosten Sibiriens bereist und Menschen zur Gegenwart und Vergangenheit interviewt
Angekommen sind sie in Stadt Magadan, mit dem Schiff von Wladiwostok. Rund eine Million Zwangsarbeiter mussten, beginnend mit den stalinistischen »Säuberungen«, seit den 30er Jahren im Kolyma-Gebiet schuften, über hunderttausend sind dort gestorben, durch Kälte und Mangelernährung. Ihren Namen hat die Gegend im Nordosten Sibiriens vom Fluss Kolyma, über das Festland führt nur eine einzige Straße, die Fernstraße M 504 Kolyma, über 2200 Kilometer sind es bis nach Jakutsk, einem der kältesten Orte der Welt. Auch diese Straße wurde von Zwangsarbeitern unter dem stalinistischen Gulag-System erbaut; im Volksmund heißt sie »Straße der Knochen«, wegen der vielen Menschen, die beim Bau starben und die in Massengräbern nebendran verscharrt wurden.
Eingesetzt wurden die Häftlinge beim Bergbau, beim Fördern von Gold und Platin, aber auch von Uran – vollkommen ohne Schutz, wie einer der Überlebenden Stanislaw Mucha erzählt. Der in Berlin lebende Dokumentarfilmregisseur ist die Straße entlanggefahren, sommers wie winters, und hat nach den Spuren der Vergangenheit genauso wie nach dem Zustand der Gegenwart gesucht. Viele von Muchas Filmen sind Dokumentationen einer Reise, Roadmovies gewissermaßen, etwa »Die Mitte« (2004), in dem er sich auf die Suche nach der Mitte Europas machte, oder »Tristia – Eine Schwarzmeer-Odyssee« (2014).
Mucha ist als Interviewer nicht zurückhaltend, sondern forsch. Einmal, schon zu Beginn, hält er an einem Imbissstand, der »Hot Dogs« verspricht. Warum denn nicht »Hot Gulag« drüberstehe, fragt Mucha. Doch die blonde Bedienung kennt das Wort gar nicht, fragt, ob er nicht »Hot Gulasch« meint. Aber auch wenn die Gegenwart nicht viel vom Gulag wissen will – die Lager sind präsent. Im Vorbeifahren sind die übrig gebliebenen und verrottenden Lager zu sehen. Ein Mann hat ein privates Museum mit Gegenständen aus dem Lageralltag. Ein anderer zeigt einen Friedhof, auf dem man früher Schädelknochen fand – heute gilt das als stillgelegte Goldmine. Nahezu grotesk sind aber Muchas Beobachtungen des gegenwärtigen russischen Alltags, etwa wenn die Armee Unterricht in der Schule erteilt und die Kinder stramm stehen lässt oder ein Mädchenensemble mit russischen Farben singt: »Russland. Das heißt, wir werden siegen.« Oder zwei Jungs, die mit Strom experimentieren und den Großvater schon mal unter 100 000 Volt setzen, damit er wieder jünger wird.
Aber Mucha übertreibt das Skurrile und Folkloristische nicht. Intensiv sind die Gespräche, die er mit den Menschen, teilweise Überlebenden, führt, etwa mit der alten Frau, die als Häftling in die Gegend kam, die verhaftet wurde, ohne dass sie wusste, warum. Oder mit dem Major, der seit 1961 dort lebt und auf die gegenwärtige Regierung schimpft.
Am Ende von Muchas Reise bleibt für den Zuschauer ein Puzzle, kein Fazit, ein Mix aus Interviews, fast lyrischen Betrachtungen auf die Landschaft vom Auto aus, Erinnerungen an die grausame Vergangenheit und ein Blick auf eine Gegend, die noch heute ziemlich abgeschnitten von der Welt ist.
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