Kritik zu It's a Free World...
Kapitalismus heißt, den ökonomischen Druck an die jeweils Schwächeren weiterzugeben: Im neuen Film von Ken Loach steht mit Kierston Wareings Angie eine ungewohnt zwiespältige Figur im Zentrum
Ein Regenbogen prangt auf der Website von Angies Zeitarbeitsagentur, doch Hoffnung gibt es für die Klienten der jungen Frau nicht. Wer sich an Angie wendet, hat auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance mehr, ihm bleibt nur noch ein Job im Niedriglohnsektor – ohne geregelte Arbeitszeiten, Krankenversicherung und Perspektive. Zu ihren Klienten gehören vor allem Immigranten, oft der englischen Sprache kaum mächtig. Morgens herrscht auf dem Platz vor Angies improvisiertem Büro ein rüder Umgangston; mürrisch verteilt sie Jobs, blafft die wartende Menge an und schiebt sie ungeduldig in die Busse. Angie hat den Geschäftssinn eines Menschen, der sein Leben lang auf das große Geld gewartet hat.
Ken Loachs neuer Film »It's a Free World...« handelt jedoch nicht von einer Frau, die sich tapfer in einer von Männern dominierten Welt behauptet. Angie ist bloß das logische Resultat einer Gesellschaft, die die Ausbeutungsverhältnisse des Kapitalismus konsequent verinnerlicht hat: der soziale und ökonomische Druck wird ganz einfach an die weitergegeben, die noch etwas schwächer sind als man selbst.
Damit ist Angie eine untypische Heldin im Œuvre des Sozialrealisten Ken Loach – wenn sie auch aus einem Milieu stammt, das Loach-Fans vertraut ist. Angie ist alleinerziehende Mutter und hat gerade selbst ihren Job in einer Zeitarbeitsagentur verloren. Mit Mühe und Not bringt sie sich und ihren Sohn durchs Leben; doch der Junge hat in der Schule Probleme, und auch Angies Eltern stehen dem Lebensentwurf ihrer Tochter kritisch gegenüber. Die Idee, mit ihrer Mitbewohnerin Rose selbst eine Zeitarbeitsagentur ins Leben zu rufen, klingt zunächst nach einer Spinnerei. Aber Angie weiß um den Mangel an Jobs und den Überschuss an unqualifizierten Arbeitern aus eigener Erfahrung. Und sie hat ein für allemal genug davon, für das bisschen Geld herumgeschubst zu werden.
Debütantin Kierston Wareing verleiht Angie eine Ambivalenz, wie sie in den Filmen von Ken Loach selten geworden ist. Loach und sein Autor Paul Laverty haben die Angewohnheit, gesellschaftliche Konflikte sorgfältig auf verschiedene Sprechrollen zu verteilen. Angie aber ist ein wandelnder Widerspruch: Ihre Arbeiter staucht sie zusammen, während sie einen illegalen Iraner mitsamt seiner Familie in ihrer kleinen Gemeinschaftswohnung aufnimmt. Treusorgende Mutter, die sie ist, hat sie trotzdem keine Bedenken, Flüchtlingsfamilien an die Polizei zu verraten, um an billige Unterkünfte zu gelangen. Für jemanden, der die prekären Ausbeutungsverhältnisse am eigenen Leib zu spüren bekommen hat, agiert sie erstaunlich ahnungslos. Zwei ihrer jungen Arbeiter holt sie sich sogar für sexuelle Gefälligkeiten in die Wohnung. Wareing spielt Angie als vulgäres Mädchen, hinter dessen trashigem Äußeren immer wieder hilflose Verletzlichkeit zum Vorschein kommt. Ihre Liebe zu dem Hilfsarbeiter Karol hat unter diesem Existenzdruck keine hohe Lebenserwartung. Und weil sie alles Private (außer ihrem Sohn) rigoros ihrem »Beruf« unterordnet, wird der Zuschauer Zeuge, wie Angie langsam auch ihre letzten Skrupel verliert.
Loach und Laverty enthalten sich in »It's a Free World...« jeden moralischen Urteils über ihre Hauptfigur. Angie ist Opfer und Täterin zugleich, ein Kollateralschaden des Freien Marktes. Leider versäumt Loach es wie so oft, die komplexen Zusammenhänge seines Films offenzulegen. Stattdessen begnügt er sich damit, die Zwänge, denen seine Figuren unterliegen, ausführlich zu beschreiben. Jeder Figur kommt eine Funktion zu (Angies Vater, ein »Old Labour«-Veteran, verteidigt das Prinzip des Mindestlohns, Rose wird zu ihrem schlechten Gewissen, die Arbeiter fragen nach dem monetären Wert eines Menschenlebens), bis der Film Gefahr läuft, auf ein Thesenpapier reduziert zu werden. Wäre da nicht Wareing, die Loachs Thesen immer wieder ein menschliches, wenn auch nicht immer sympathisches Gesicht verleiht. Doch Loach bleibt, das ist das eigentlich Überraschende, pessimistisch. Der Film endet, wie er beginnt: mit einem Bild der Ausbeutung, in einem Rekrutierungsbüro irgendwo in Osteuropa. Den Arbeitssuchenden steht die Hoffnung ins Gesicht geschrieben, Angie die Gier. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
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