Kritik zu Gigante
Die lakonische Beobachtung eines verliebten Nachtwächters räumte auf der Berlinale die Preise ab: den Alfred-Bauer-Preis für die Eröffnung neuer Perspektiven in der Filmkunst, den Erstlingspreis und noch den Silbernen Bären
Wenn das südamerikanische Kino sich derzeit auf einen gemeinsamen Helden einigen müsste, könnte es eigentlich nur der des wortkargen, einsamen Kerls sein. So stoisch etwa wie der Strumpffabrikant im uruguayischen »Whisky« (2004), so unaufgeregt wie Julio Chavez, der in den argentinischen Filmen »Der Leibwächter« (2006) und »El Otro« (2007) durch ein gleichförmiges Leben driftet. Genauso langsam bewegt sich auch Horacio Camandule als Nachtwächter Jara in »Gigante« durch einen Alltag, der keine größere Aufregung als einen nachmittäglichen Boxkampf auf der Playstation mit seiner kleinen Nichte bereithält. Jara ist ein gewaltig großer und behäbiger Typ mit einem runden Gesicht, einem Schnauzer und erstaunlich babyblauen Augen darüber. Schwer kommt er in Gang und wenn er läuft, hängen seine Arme wie Schaufeln an der Seite herunter. Einem wie ihm stellt sich so schnell niemand in den Weg.
Eigentlich ist Jara ein guter Kerl. Jeden Abend tritt er pünktlich seinen Dienst in den Hinterstuben eines Supermarktes an. Wie ein kleiner Gott überblickt er hinter den Monitoren der Überwachungskameras die Gänge und Lagerhallen dieses Universums. Wenn die Diebstähle des Personals zu dreist werden, schaltet er sich mahnend ein. Doch denunziert wird niemand. Im Gegenteil, die Frauen der Putzkolonne beschützt er vor den Schikanen ihres Chefs, indem er ihn ausrufen und fälschlicherweise an andere Orte zitieren lässt. Den Balgereien der Lagerarbeiter, den Schludereien in der Küche schaut er von seinem Schaltpult gelassen zu. Das könnte ewig so weitergehen, bis Jaras Blick eines Tages an dem Gesicht der Reinigungskraft Julia (Leonor Svarcas) hängenbleibt und er seinen Überwachungsapparat nicht mehr zur Sicherung des Geländes in Dienst nimmt, sondern um der jungen Frau heimlich zuzusehen, bei allem, was sie gerade so tut.
Mit Jaras liebevollem Voyeurismus, der den Blick des Kinos doppelt, stülpt sich die Perspektive des ganzen Films auf schöne Weise symbolisch nach innen, wandelt sich von einer technokratischen Allmachtsfantasie zur Schlüssellochschau eines Verliebten. Auch nach der Arbeit nimmt Jara die Fährte auf, beschattet Julia auf ihren Wegen ins Internetcafé oder in die Bar zum Date. Und irgendwann einmal, als sich die beiden ganz aufs Sehen und Gesehenwerden eingespielt zu haben scheinen, macht der Film einen Achsensprung: Julia schaut zurück ins Objektiv. Später erkennt sie selbst ihren Betrachter Jara auf dem Monitor einer Überwachungskamera. Sie lächelt gerührt.
Der Reiz dieses Films aber liegt außerhalb einer sich womöglich erfüllenden Sehnsucht. Es sind die Rhythmen aus Ruhe und schwerfälliger Geschäftigkeit. Es ist die Lakonie, mit der die ganze Belegschaft des Supermercados die Monitorbilder ausfüllt, das metallische Schmatzen, mit dem die Sicherheitstüren ins Schloss fallen, das Knacken, wenn Jara einem Kollegen den Halswirbel einrenkt. Wo er das gelernt habe? »Im Fernsehen«, antwortet er. Auf der Mattscheibe, eben dort, wo sich sein ganzes Leben abspielt. Das ist gottlob fern aller Medienkritik und voll zärtlichen Realitätssinns.
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