Kritik zu Forever Young
Valeria Bruni Tedeschi erinnert sich in diesem Drama an ihre Lehrzeit in den Achtzigern im legendären Théâtre des Amandiers und skizziert mit Insiderblick eine verschworene Truppe von lebenshungrigen Jungschauspielern und ihrem Guru Patrice Chéreau
Das Théâtre des Amandiers im Pariser Vorort Nanterre ist ein Vorzeigeprojekt der Mitterand-Ära und die bekannteste avantgardistische Bühne Frankreichs. In der angeschlossenen Schauspielschule wurden viele aus der heute tonangebenden Generation französischer Darsteller ausgebildet, etwa Eva Ionesco, Vincent Perez, Agnès Jaoui, und Valeria Bruni Tedeschi. Ihr autobiografisch gefärbtes Sittenbild (im Original »Les Amandiers«) ist auch ein Porträt jener Institution, die in den Achtzigern einen mythischen Ruf genoss. Namentlich vorgestellt werden nur der Leiter Patrice Chéreau und sein Assistent Pierre Romans, aber auch die Schüler verraten reale Vorbilder. Als Drama Queen im Zentrum steht Stella, Tochter aus reichem Haus. Recht bald gibt sie dem Liebeswerben ihres Mitschülers Etienne nach, der deutlich sichtbar den Stempel »Vorsicht!« auf der Stirn trägt.
Die Frage, inwieweit diese kulleräugige und schmollmündige Blondine (Nadia Tereszkiewicz, zurzeit auch in »Mein fabelhaftes Verbrechen« zu sehen), als junges Alter Ego der Regisseurin und Schauspielerin Bruni Tedeschi gelten kann, wird schnell unwichtig. Die Energie der Jungschauspieler, ihr sich Ausliefern mit Haut und Haar, wirkt so frisch und unmittelbar, als ob es sich um die Gegenwart und nicht um eine 35 Jahre alte Erinnerung handelte. Auch inszenatorisch erweist sich die Regisseurin mit ihrer intimen Herangehensweise und einer beweglichen Kamera, die sich an den jungen Gesichtern festsaugt, als gelehrige Schülerin ihres Mentors, der durch seinen expressiven Stil Furore machte. Sie interessiert sich allerdings kaum für die schauspielerische Entwicklung von Stella und ihrer Clique. Stattdessen konzentriert sie sich auf die Interaktion innerhalb des Ensembles – zwischen Menschen, die permanent unter Hochspannung stehen.
Wie einst in der Realität will Chéreau mit den Anfängern Tschechows Stück »Platonow« einüben. Vom Sturm und Drang seiner Jünger ebenso angetörnt wie ihn anfachend, fordert er totale emotionale Entblößung, was implizit bedeutet, dass diese ihre privaten Gefühle für ihre Bühnenrollen ausbeuten müssen. So ist dieser Film auch ein Loblied auf das Klischee der schauspielerischen »déformation professionelle«, bei der auch privat jede Lebensäußerung theatralisch überhöht wird und Exzesse als berufliches Werkzeug dienen. In diesem Treibhaus der Gefühle wird die Grenze zwischen Kunst und Leben umstandslos eingerissen. Koks, Heroin, Promiskuität sind bei den Theaterschülern und ihren Lehrern gang und gebe, gefolgt von Aidspanik. Selbst die Trauer dient als Treibstoff für die Bühnenperformance. Bruni Tedeschis mal zartfühlendes, jedoch meist fiebriges Stimmungsbild mag auf manchen enervierend wirken und den Wunsch nach einem Kübel Wasser zur Abkühlung der oft schreienden Eleven hervorrufen. Doch es lässt eben auch den Zuschauer nicht kalt.
In dieser »Lebe wild und gefährlich«-Romantik geht sie so weit, dass sie sogar die Übergriffe von Chéreau auf seine Schüler oder eine Sex-gegen-Rolle-Aufforderung von Romans zur bloßen Anekdote innerhalb eines allzu weit gefassten Begriffes des pädagogischen Eros reduziert. Wobei andererseits auch Schülerinnen ihre Lehrer offensiv anmachen. Für die Machtstrukturen innerhalb des Betriebs hat die Regisseurin in ihrer euphorischen Rückblende aber keinen Blick. Es passt leider wie die Faust aufs Auge, dass kurz nach dem französischen Filmstart 2022 öffentlich wurde, dass gegen den Darsteller von Etienne, Sofiane Bennacer, seit Anfang 2021 wegen sexueller Gewalt ermittelt wird. Die Zahl der Anklägerinnen hat sich inzwischen auf vier erhöht. Bruni Tedeschi stellte sich bedingungslos hinter ihren Hauptdarsteller, mit dem sie inzwischen eine Beziehung hat. Das Leben schreibt eben immer noch die besten Geschichten.
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