Kritik zu Chrieg
Ein furioser Schweizer Debütfilm von Simon Jacquemet über ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, das seine Bestimmung ins Gegenteil verkehrt hat
Ob er noch kiffen würde, wird Matteo vom Sozialarbeiter gefragt. Nein, antwortet der Junge einsilbig. In der nächsten Szene dealt der 15-Jährige, und um ordentlich auf den Putz zu hauen, bringt er gleich noch eine Prostituierte mit nach Hause. Als er dann noch sein Geschwisterchen, einen Säugling, entführt und dabei verletzt, wird es den Eltern zu bunt. Ohne Vorwarnung lassen sie den tranigen Rebellen vom Jugendamt abholen und in ein Camp für schwer Erziehbare in den Schweizer Alpen bringen. Die Hütte ist karg, der Blick auf die Bergkulisse atemberaubend. Doch mit Ferien hat sein Aufenthalt in dieser Besserungsanstalt nichts zu tun.
Warum ist die Situation in diesem Jugenddrama, zu dem der Schweizer Debütregisseur Simon Jacquemet auch das Drehbuch schrieb, so verfahren? Man versteht es zunächst nicht. Mit grob aneinandergereihten Szenen wird der Zuschauer hin und hergeschubst wie der junge Protagonist. So entfalten die rohen, ungeschliffenen Bilder während der ersten halben Stunde eine hypnotische Sogwirkung. Man spürt die Verlorenheit Matteos, dessen traurige Orientierungslosigkeit der Laiendarsteller Benjamin Lutzke weniger spielt, als dass sie ungezwungen aus ihm herausfließt.
Irgendwann keimt ein Funken Hoffnung auf. Die Rosskur in diesem bootcamp zeigt ihre Wirkung. Durch brutal aufgezeigte Grenzen scheint Matteo zu sich zu kommen. Fehlt dem Jungen tatsächlich nur Disziplin? Hier dreht der Regisseur dem Zuschauer eine lange Nase. Das Erziehungscamp ist von den Zöglingen übernommen und zur Räuberhöhle umfunktioniert worden. Ein Exsträfling, ein Serbe, und ein mürrisches Mädchen namens Ali (Ella Rumpf) haben den Spieß umgedreht. Sie wenden bewährte Erziehungsmethoden an, um Matteo zum gefügigen Komplizen für Überfälle abzurichten: Wohlmeinende Pädagogik wird als Brutstätte des Terrors entlarvt.
Diese Wendung ist überraschend – aber nicht ganz nachvollziehbar. Man versteht nicht, warum der versoffene Almbauer Hanspeter (Ernst Sigrist), der ursprünglich als Erzieher tätig war, bei diesem Spiel mitmacht. Und dass es ausgerechnet in der Schweiz einen rechtsfreien Raum geben soll, macht Jacquemet mit seiner elliptischen Erzählweise nicht wirklich plausibel. Der Film hat andere Stärken. Die bewegliche Handkamera bleibt dicht an den Figuren, deren Verletzlichkeit in einigen zärtlichen Momenten aufscheint. Plötzlich erweist sich die Idylle der Bergwelt als Exil für verlorene Seelen. Von dort oben fällt die entfesselte Viererbande in Zürich ein, wo saturierte SUV-Fahrer verprügelt und nebenbei eine Großraumdisko abgefackelt wird. Das hat einen anarchischen Charme. In einigen Augenblicken scheinen alle Regeln außer Kraft gesetzt zu sein. Das diffuse Gefühl, im Chrieg zu sein, überträgt sich auf den Zuschauer.
Dünn wird die Luft nur dann, wenn die hingerotzte Erzählung sich in die Figuren einfühlen will. Was ist eigentlich der Grund für all die wütenden Gewaltausbrüche? Der Blick auf sozialen und ökonomischen Hintergründe aber bleibt unscharf. Es geht dem Regisseur offenbar weniger um Analyse als um den emotionalen Ausdruck einer unspezifischen Wut.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns