Kritik zu Balconettes
Die zweite Regiearbeit der Schauspielerin Noémie Merlant kommt zuerst listig als eine weibliche Buddy-Komödie daher und konfrontiert das Publikum dann mit explizitem Körperhorror. Diese Abrechnung mit dem Voyeurismus meint es ernst mit dem Kampf der Geschlechter
In seiner Exposition gibt sich Noémie Merlants Film heiter als Hitchcock-Plagiat zu erkennen. Eine Großstadt, hier Marseille, ächzt unter einer Hitzewelle; die Kamera erkundet mit raumgreifender Agilität die Fassaden eines Hinterhofes, blickt neugierig in diverse Fenster und betrachtet verschmitzt, wie die geplagten Stadtmenschen versuchen, die Hundstage zu überstehen.
Aber stellen Sie sich eine Variante von »Das Fenster zum Hof« vor, in der James Stewart nicht Zeuge eines Mordes ist, sondern aus Fieberträumen erwacht und entdeckt, dass er des Nachts möglicherweise selbst zum Mörder wurde. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass dies aus einer neofeministischen Perspektive erzählt wird – dann bekommen Sie eine Ahnung davon, was die Regisseurin von »Balconettes« im Schilde führt. Es ist ein wahrer Formwandler von einem Film, der als aufgekratzte Freundinnenkomödie beginnt, sodann in die Gefilde ulkig-verstörenden Körperhorrors umschwenkt und zeitweilig den Geisterfilm streift, um schließlich in ein quirliges Manifest der #MeToo-Bewegung zu münden. Das muss man sehen, um es glauben zu können. Vollends dingfest machen lässt der Film sich dennoch nicht.
Im Zentrum steht ein Dreigestirn höchst unterschiedlicher Charaktere. Nicole (Sandra Codreanu), die man anfangs für die Erzählerin halten könnte (sie lernt kreatives Schreiben in einem Fernkurs) ist die Verhuschte in dieser Runde. Ruby (Souhella Yacoub) fällt der Part der Abgebrühten zu; sie verdient ihren Lebensunterhalt als Cam-Girl, und es trifft sich gut, dass Sex ihr jede Menge Spaß macht. Élise (Merlant) tritt zunächst als verpeilte Diva auf, die beim Einparken einen Wagen rammt und somnambul auf die Dreier-WG zutorkelt. Sie ist Schauspielerin, hat in Paris gerade einen Fernsehfilm über Marilyn Monroe abgedreht (was ihr glamouröses Kleid und die platinblonde Perücke erklärt), flieht vor einem zudringlichen Geliebten (oder Ehemann, das bleibt im Vagen) und überrascht in Krisensituationen durch Geistesgegenwart.
Kompliziert wird das WG-Leben, als der fesche Nachbar von gegenüber die drei zu sich einlädt. Der demolierte Wagen gehört ihm; er entpuppt sich als prätentiöser Fotograf und hat ziemlich eindeutige Vorstellungen, wie der Schaden beglichen werden kann. Nicole ist heimlich in den Unbekannten verliebt, aber Ruby scheint geübter im Umgang mit männlicher Lüsternheit. Als die Dreierbande am Morgen aufwacht, verkatert wie nach einem schlechten Trip, steht sie vor zwei dringenden Aufgaben: die Ereignisse der vergangenen Nacht zu rekonstruieren und die Leiche des Fotografen zu entsorgen. Die Frage, wie er von seinem Stativ durchbohrt werden konnte, ist rasch beantwortet. Doch die Wirklichkeit gerät zusehends aus den Fugen. Die Adresse Rue Montplaisir Nr. 10 existiert übrigens wirklich in Marseille. Menschen mit Kastrationsangst werden in Zukunft wohl einen weiten Bogen um sie machen.
Beim Zuschauen ahnt man, wie ausgelassen die Drehbuchautorinnen sich die Bälle zugeworfen haben müssen. Energisch bringen sie die Geschlechter in unversöhnliche Opposition zueinander. Nach dem fatalen Besuch in der Wohnung des Fotografen stehen die Männer unter Generalverdacht, Vergewaltiger zu sein. Weit schlüssiger ist, wie Merlant Weiblichkeit inszeniert. Sie unternimmt eine nachdrückliche Entzauberung vordergründiger Erotik. Ruby mag sie offensiv einsetzen, aber die Blöße ist kein Schauwert. Konventionen der Schicklichkeit werden ausgehebelt, Merlants Heldinnen sitzen auf dem Gynäkologenstuhl, sie treiben ab, haben Regelblutungen und Blähungen. Ihr Körper gehört ihnen. Das lässt sie zu stolzen Stellvertreterinnen werden. Als das langersehnte Gewitter über Marseille ausbricht, zeigen sich dessen Bewohnerinnen in einer Nacktheit, die fröhlich entsexualisiert ist: eine Idylle, an die sich Männeraugen erst gewöhnen müssen.
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