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»Vikings« (Staffel 6B, 2020). © TM Productions / Amazon
Im Jahr 2013 flirrten erstmals jene pulsierenden Akkorde zu apokalyptischen Zeitlupenaufnahmen einer im Meer versinkenden Drachenbootmannschaft über den Bildschirm. Die schwedische Ghost-Pop-Band Fever Ray säuselt dazu: »If I had a heart I could love you / If I had a voice I would sing / After the night when I wake up / I'll see what tomorrow brings.« Es ist die unverwechselbare Magie dieses Anfangs, die der Streamingserie »Vikings« von Autor Michael Hirst beständige Popularität verleiht. Das Intro hat man wohlweislich über sieben Jahre nie verändert.
»Vikings« ist eine Historienserie über das frühe Mittelalter und erzählt von den Fahrten, Schlachten und Intrigen der Wikinger zur Zeit von Ragnar Lothbrok, Lagertha, Rollo und Ivar, dem Knochenlosen – allesamt historische Figuren, die um das Jahr 800 teilweise in den Überfall auf das Kloster Lindisfarne oder das alte Paris beteiligt waren. Ihre Verkörperung finden sie in einem attraktiven Cast u. a. mit Travis Fimmel (Ragnar) und Katheryn Winnick (Lagertha), die diese Figuren über mehrere Lebensjahrzehnte darstellen.
Vielleicht gerade weil die Serie vom History Channel in Auftrag gegeben wurde, entzündete sich früh bereits Kritik an der unhistorischen Ausstattung und Kostümierung, die jedoch einen weiteren Grund für den Erfolg der Serie darstellen dürfte: Die Krieger tragen ausrasierte Schläfen, Gesichtstattoos, erdfarbene Lederkleidung, der Schamane erinnert an den Sänger einer Blackmetalband mit Leichen-Make-up, Kutte und Knochenschmuck. In Wahrheit aber sah die frühmittelalterliche Kultur der Skandinavier wohl eher bunt aus, mit prachtvoll bestickten Gewändern, nicht steinzeitig verdreckt und mit Geweihkronen geschmückt. Hirst selbst räumte im Interview mit der »New York Times« ein, dass er sich Freiheiten nehmen musste, um ein großes Publikum zu erreichen. Und dieses Publikum mag es eben rustikal, wie auf einem Mittelaltermarkt.
Auch die Abfolge der historischen Ereignisse wurde stark verändert und komprimiert, um mit dem vorhandenen Ensemble arbeiten zu können. Was jedoch ein anschauliches Bild des frühen Mittelalters abgibt, sind die kleinen Kampfgruppen und ihre Schlachtformationen und Techniken. Hier konnte man sich auf historische Dokumente berufen.
Spätestens mit der zweiten und dritten Staffel involvierte man die weltweit populäre Musikformation Wardruna in die Produktion, deren Sänger Einar Selvig hier auch als Barde zu sehen ist. Diese weltmusikalischen Einflüsse dürften ein weiterer Erfolgspunkt der Serie sein, die ihren Höhepunkt bei Ragnars Tod in der Schlangengrube erreicht, zu der Selvig das elegische Stück »Snake Pit Poetry« anstimmt. Solche Momente magischer Entrücktheit sind über die gesamte Laufzeit jedoch rar gesät.
Die erste Staffel etablierte mit dem abenteuerlustigen Ragnar Lothrok einen martialischen Helden, der als erster Wikinger England überfiel und mit Reichtümern zurückkehrte. Ragnar nimmt sich den Priester Athelstan (George Blagden) als Sklaven und bekommt von ihm Einblicke in den christlichen Glauben. Die Konkurrenz zwischen nordischem Heidentum und Christentum ist von da an ein ständiger Subtext der Serie.
Ein weiterer Motor der Dramaturgie sind natürlich die Herrschaftskonflikte um die Position des »Jarl«. Ragnar wirft Jarl Haraldson (Gabriel Byrne) vor, er sei zu sesshaft, und fordert ihn durch seine Beutezüge heraus. Es sind diese Intrigen und höfischen Konflikte, die alle Staffeln begleiten, später vor allem in Form der rivalisierenden Söhne von Ragnar und Lagertha im ewigen Kampf um die Stadt Kattegat.
Sehr zeitgemäß mutet dabei auch das differenzierte und kraftvolle Frauenbild der Serie an, das in Schildmaid Lagertha kulminiert, die von Katheryn Winnick als zielstrebige, kampferprobte und sexuell selbstbestimmte Kriegerin dargestellt wird. Zwar ist Lagertha eine historisch verbürgte Figur, aber nur wenig ist über sie belegt. Ob sie tatsächlich an der Seite ihres Mannes gekämpft hat? Autor Hirst baut in der vierten Staffel jedenfalls ganz auf Lagerthas Charisma und macht sie zur patriarchalen Herrscherin. Als sie schließlich ermordet wird, erreicht die Serie einen pathetisch-spirituellen Höhepunkt und lässt die Kriegerin von Walküren begleitet nach Walhalla reisen.
Wie zahlreiche Historienserien hat auch »Vikings« deutliche Durststrecken, die sich bereits ab der dritten Staffel zeigen und mit der schier endlosen fünften Staffel in die Gefilde der Historysoap abgleiten. Der Tod des charismatischen Alphapärchens Lagertha und Ragnar hinterließ eine Lücke, die nur mühsam gefüllt werden konnte. Im Folgenden konzentrierte sich die Handlung auf die Konkurrenz der Söhne Björn (Alexander Ludwig) und Ivar (Alex Høgh Andersen). Während Björn den Platz Ragnars übernimmt und den Tod der Eltern rächen möchte, verbündet sich der gehbehinderte Ivar mit den Feinden (u. a. den slawischen Rus), um Kattegat zu erobern.
Im Laufe der vierten Staffel zeigte sich fast zu deutlich, dass Hirst aus dem Erfolg der Serie »Game of Thrones« lernen wollte: Identifikationsfiguren werden unvermittelt und grausam getötet und hinterlassen Lücken, die alsbald gefüllt werden wollen; in regelmäßigen Abständen finden erotische oder gewalttätige Exzesse statt; und als Höhepunkt werden bestimmte entscheidende Schlachten angekündigt, die die Verhältnisse immer neu ausrichten. Die atmosphärische und dramaturgische Dichte der ersten drei Staffeln blieb dabei auf der Strecke.
Der Konflikt zwischen heidnischen und christlichen Glaubensformen wird vor allem in intensiven Dialogszenen zwischen Ragnar und Athelstan, aber auch zwischen Lagertha und ihren Getreuen und dem visionären Floki ausgebreitet. Hier liegt eine zeitgemäße Qualität der Serie, denn in den Dialogen finden sich Argumente, die sich auf den aktuellen kulturellen Konflikt zwischen Säkularität, Christentum und Islam übertragen lassen. Fundamentalismus und Offenheit, Eklektizismus und Isolation werden an verschiedenen Modellen durchgespielt. So tritt Athelstan zeitweise zum Odinismus über und Ragnar hadert mit seiner Weltsicht, was Floki schließlich zum Mord an Athelstan motiviert. Er fürchtet um die »Reinheit« des nordischen Glaubens und einen Zerfall der Gemeinschaft. Es gleicht einer Ironie, dass er daraufhin verbannt wird und mit seinem Gefolge Island entdeckt, was ihm zunächst wie das Paradies der nordischen Götter erscheint. Diese Glaubenskonflikte schwingen lange Zeit nur noch latent mit und kehren erst in der sechsten Staffel wieder, in der Ivar als heidnischer Führer der christlichen Rus zurückkehrt, um sein »Erbe« zu sichern.
Hier fand die Serie zu ihrer alten Form zurück, denn das Geschehen wurde in einer die Zeiten verschachtelnden, visionären Erzählweise vermittelt: Björn und Ivar sitzen einsam am Strand und reflektieren die Ereignisse. Indem hier das eigentliche Schlachtgeschehen unterbrochen wird, tritt noch einmal das komplexe Verhältnis der verfeindeten Brüder in den Fokus. Ragnars Erbe steht auf dem Spiel und Autor Hirst scheint sich bewusst zu sein, dass er zur eigenen Mythologie der Serie zurückkehren muss. Die im Februar 2020 veröffentlichten ersten zehn Folgen der sechsten Staffel endeten mit Björns Tod und dem Triumph des verfemten Ivar. In den finalen zehn Folgen der Serie steht nun Kattegat auf dem Spiel wie auch die Herrschaft über ganz Norwegen.
Gerade wurde bekannt, dass Netflix statt einer Fortsetzung ein Spin-off angefordert hat. »Vikings: Valhalla« soll hundert Jahre später in der Geschichte spielen. Fever Ray sollten recht behalten, wenn sie im Vorspann singen: »This will never end 'cause I want more / More, give me more / Give me more . . .«
Trailer