Dem Arbeiter von heute bleibt nur noch die Selbstausbeutung
Genau 40 Jahre ist es her, dass Ken Loach zum ersten Mal mit einem Film nach Cannes kam – damals noch in der Nebenreihe »Quinzaine des Réalisateurs«. Zwei Jahre später präsentierte er mit »Looks and Smiles« seinen ersten Film im Wettbewerb an der Croisette. Es war der bescheidene Auftakt einer mittlerweile Rekord gewordenen Serie: Loach, stolze 82 Jahre jung, schickt mit »Sorry We Missed You« in diesem Jahr bereits den 15. Film ins Rennen um die Goldene Palme. Die er bereits zwei Mal gewinnen konnte: 2009 für das historische Irland-Drama »The Wind That Shakes the Barley« und 2017 für »I, Daniel Blake«.
Aus seiner sozialkritischen Agenda hat Loach nie einen Hehl gemacht. Und immer, wenn man dachte, dass seine Art des filmischen Arbeiter-Realismus sich nun endgültig verbraucht hätte, verstand es Loach durch einen präzisen und zugleich humorigen Blick auf die weiterhin missliche Lage zu überzeugen. Wie zuletzt in »I, Daniel Blake«, wo der Titelheld mit den Schikanen des Wohlfahrtsstaats ringt. In »Sorry We Missed You« nimmt sich Loach nun die Gig Economy vor, jene Art der raffinierten Ausbeutung, die dem Arbeiter das letzte nimmt, was er noch hatte: den ausbeuterischen Chef.
Denn das große Stichwort der Gig Economy ist die Selbstständigkeit. Die Fahrer des Lieferdiensts, bei dem Familienvater Ricky Turner (Kris Hitchen) anheuert, sind »Eigentümer-Fahrer«. Was in seinem Fall bedeutet, dass er sich den Wagen erst noch selbst kaufen muss, mit dem er dann im Akkord die Pakete an den Mann bringen soll. Der wichtigste Tipp, den Ricky von einem Kollegen bekommt, ist die leere Milchflasche: Für Pinkelpausen wird in seinem 14-Stunden-Tag keine Zeit bleiben.
Selbstausbeutung, Prekariat und Digitalgeräte, die den Fahrer auf Schritt und Tritt überwachen: Es sind alles wahre Dinge, die Loach in »Sorry We Missed You« auf den Punkt bringt. Aber wie es häufiger geschieht in seinen Filmen, scheint ihm die bloße Kritik an einem Arbeitsverhältnis nicht genug. Der Zuschauer soll schon richtig mitleiden mit seinem Helden, den er folglich mit Problemen verschiedener Art überhäuft.
Rickys Frau Abbie (Debbie Honeywood) hat als mobile Pflegekraft ebenfalls mit zu vielen Aufträgen in zu kurzer Zeit und für zu wenig Geld zu tun. Damit nicht genug rebelliert der Teenagersohn, der natürlich nicht so enden will wie sein Vater, während die 11-jährige Tochter zu bettnässen beginnt, weil ihre Eltern zu wenig Zeit haben, sich um sie zu kümmern. Aus dieser Konstellation konstruiert der Film eine Notlage nach der anderen, die Ricky mehr noch in Bedrängnis bringen als es sein eng getakteter Job von allein tut.
Dass Loach mit »Sorry We Missed You« seine dritte Palme gewinnen könnte, scheint jedoch eher unwahrscheinlich. Zumal mit den Spielfilm- und Wettbewerbsdebüts von Ladj Ly (»Les Misérables«) und Mati Diop (»Atlantiques«) sich bereits zwei Regisseure gefunden haben, die soziale Anliegen mit einer aktuelleren Handschrift zu verbinden wissen.
Der Franzose Ladj Ly, dessen Eltern aus Mali stammen, spaltete das Publikum in Cannes mit seinem Victor Hugo zitierenden »Les Misérables«: An der Seite eines Polizeineulings führt der Film durch das komplexe Machtgefüge einer Pariser Vorstadt, in der Islamisten verschiedener Couleur mit Drogenhändlern und nach ethnischen Identitäten sortierten Gangs um den Einfluss auf die Jugendlichen ringen. Packend, gerade deshalb aber auch ein Stück zu gefällig in seinem Panorama-Blick, werden Ladj Ly in jedem Fall große Chancen auf den Erstlingspreis, die Caméra d'Or, eingeräumt.
Dasselbe gilt auch für Mati Diop, Französin mit senegalesischen Wurzeln, die als erste »Afrikanerin« im Wettbewerb in doppelter Weise für Diversität im notorischen Männerclub von Cannes sorgt. Ihr »Atlantiques« mischt Liebes- und Sozialdrama mit Fantasy- und Horror-Elementen. Eine junge Frau im Senegal liebt den einen und ist mit einem anderen, Reicheren verlobt. Als der eine beim Fluchtversuch nach Europa ums Leben kommt, beginnen geisterhafte Wesen ihr Unwesen zu treiben und sorgen dafür, dass die Dinge auch für die junge Frau nicht mehr so weitergehen wie von der Gesellschaft vorgezeichnet. Nicht ausgeschlossen, dass Diop die – nach Jane Campion 1993 – erst zweite Regisseurin mit Goldener Palme wird.
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