Retrospektive: »Wine of Youth« (1924)
King Vidor ist ein Regisseur des Ensembles. Er vereint seine Protagonisten vor der Kamera und lässt ihnen und ihren kleinen, eigenen Geschichten den Raum, den sie benötigen. Daraus dann schält sich irgendwann die Haupthandlung des Films heraus – wie zufällig und unbeabsichtigt. So kommt es, dass oft genug eine halbe Stunde Filmzeit vergeht, bis deutlich wird, um wen und worum es eigentlich gehen wird – in »Street Scene« war das so, in »Bardelys the Magnificent« oder auch in »Comrade X«.
»Wine of Youth« dauert nur 72 Minuten – daher kommt der Startschuss für die Handlung schon nach 25 Minuten. Zuvor haben wir in einer Art Epilog gesehen, wie im Jahr 1870 – zu Zeiten der Großmutter – die jungen Frauen von den jungen Herren bei jugendverderbender Polkamusik hofiert wurden; 1897 war es der jugendverderbenden Walzer, und heute ist es der jugendverderbende Jazz. Wir wohnen einer Party bei, in der junge Menschen tanzen, schäkern, scherzen, auch trinken – Ginger-Ale, extra dry, hat eine umwerfende Wirkung. Einer schlägt seinen Tanzpartnerinnen vor, doch mal 60 Miles per hour auszuprobieren, rast mit ihnen – eine nach der anderen – dann angeberisch die Straße entlang und bremst kurz vor einem Baum. Die Erleichterung nach dem Schreck der Beifahrerin nutzt er für einen Kuss.
Und dann ist da Mary, die von zwei Herren umgarnt wird, sie flirtet mit beiden, genießt die Aufmerksamkeit und weiß zugleich, dass sie sich, anders als Mutter und Großmutter, nicht sogleich zur Heirat entscheiden will. Weshalb sie auf die Lösung kommt: Flitterwochen auf Probe. Sie, die beiden Verehrer und ein befreundetes Paar fahren zelten, ohne Anstandswauwau. Damit verengt Vidor seine Erzählung, kommt auf den Punkt.
»Mary III.« heißt das zugrunde liegende Theaterstück, es geht um die Generationen von Mary-Oma, Mary-Mama und Mary-Willsichausprobieren. Vidor konzentriert sich auf die Jugend, auf ihr Lebensgefühl, das detailliert und liebevoll gezeichnet wird. Mary I ist empört, in ihrer Jugend hätte es so was nicht gegeben; Mary II weiß, dass sie liebevoll erziehen will, ist aber ebenfalls gegen den Plan. Mary III sagt: Wir gehen nicht weg für Unanständigkeiten, die können wir auch zuhause machen!
Vidor gestaltet wunderbar dieses Porträt der Jugend und dieses Porträt der Generationen, lässt die Jungen wegfahren, heimlich, ein bisschen nächtliche Abenteuer erleben – eine Kuh läuft über den Zeltplatz! Und das befreundete Pärchen geht schwimmen und bleibt verdächtig lange weg… Mary freilich sieht plötzlich alles aus den Augen der Eltern, und Vidor kehrt zurück in ihr Elternhaus, wo sich unter der Mutter Mary II und dem Vater ein hässlicher häuslicher Krach entfaltet, der auch die Kinder – Mary III und ihren Bruder – schockiert zurücklässt. Dieses letzte Drittel des Films ist sehr dialoglastig und filmisch wenig dynamisch – untypisch für Vidor –, doch gehört dies zu seiner Strategie, seine Themen rundherum zu erforschen. Was ist die Ehe? Was macht sie glücklich, und was unglücklich?
»Wine of Youth« wurde via 16mm-Kopie gezeigt, die wahrscheinlich einzige Kopie des Films weltweit. Begleitet wurde der Film von Pianist Richard Siedhoff, der sich ganz großartig einschwingt in die Stimmung des Films – zumal eines so musikalischen Stummfilms von Polka bis Jazz, der ja geradezu ein Pop-Picture für die damalige Jugend gewesen sein musste.
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