Keine Erbengemeinschaft
Es kommt nicht mehr so häufig vor, dass man an Claude Chabrol denkt. Seine Weggefährten von der Nouvelle Vague scheinen die cinéphile Phantasie nachhaltiger zu beschäftigen. Truffauts Großzügigkeit bleibt verlockend; es ist noch immer amüsant, wie bei Rohmer das Einfache kompliziert wird – und Godard wird uns ohnehin ewig heimsuchen. Aber Chabrol hat aufgehört, ein Adjektiv zu sein.
Ob es daran liegt, dass sein Genre und sein Milieu an Attraktivität verloren haben? Nicht unbedingt. Aber sein Befund bourgeoiser Verworfenheiten mutet mittlerweile doch ziemlich historisch an. Entlarvungsfuror ist nach jahrzehntelanger Beharrlichkeit nicht zeitlos. Natürlich lag es nicht in seinem Interesse, die Klasse und ihre Doppelmoral ganz abzuschaffen Er war ja immer auch verschmitzter Komplize. Aber er ließ zu, dass das eigene Markenzeichen verblasste. Nicht alles war erlesen, und Chabrols soziologisch-philosophisches Schillern zwischen den Polen Wahn und Ordnung bot mit der Zeit immer weniger Anknüpfungspunkte an die Gegenwart. Vielleicht hat er dem Kino einfach zu lange gedient. Dies Kapitel scheint abgeschlossen.
Der Steinbruch, in dem er seine Karriere zubrachte, klafft natürlich noch immer. Er regt weiterhin zur Boshaftigkeit an, erfordert aber nicht mehr die gleiche Gründlichkeit. Wer heute das Bürgertum aufspießt, tut dies besser aus der Hüfte heraus - leichtsinniger, ironischer, schriller. Francois Ozon ist kein Erbe Chabrols. Dessen Erzählmodell jedoch – die raffiniert eingefädelte Intrige, in ästhetischer und ökonomischer Mittellage produziert – wirkt unter anderen Vorzeichen fort. Das findet zwar kaum noch in unseren Kinos statt, ist im Prinzip aber nach wie vor exportierbar.
So wurde ich vor ein, zwei Jahren hellhörig, als ich in der anglo-amerikanischen Presse von dem Krimi »L'origine du mal« las, der in Venedig in einer Nebensektion lief und später in den USA startete. Ich gewann den Eindruck, dass er smart eine Lücke füllte. Da sich ein hiesiger Kinostart nicht abzeichnete, bestellte ich schließlich die DVD in Frankreich und entdeckte, dass Chabrols Vermächtnis nicht erloschen ist. Der Titel erinnert selbstredend an »Die Blume des Bösen« (beide nehmen entfernt, aber vollmundig Bezug zu Kunstskandalen des 19. Jahrhunderts), der zurzeit ab und an auf arte läuft. Auch die Plakatmotive ähneln sich, zeigen jeweils Familienaufstellungen, die einladen, hinter der bürgerlichen Fassade nach Spuren von Perversion und Ranküne zu suchen. Den Ursprung des Bösen identifizieren sie mithin augenblicklich. Inzwischen hat Plaion den Krimi unter dem ebenfalls triftigen Titel »Haus der Lügen« bei uns herausgebracht.
Regisseur Sébastien Marnier hat sich daheim einen mittleren Namen gemacht als Spezialist für psychologische Thriller, die von Ehrgeiz und Besessenheit angetrieben werden. In »Haus der Lügen« erzählt er von einem Identitätsraub. Nathalie (Laure Calamy, inzwischen eine Allzweckwaffe des französischen Kinos) spielt darin eine proletarische Heldin, die in einer südfranzösischen Fischkonservenfabrik am Fließband steht. Ihre Geliebte Stéphane (Suzanne Clément, die unfassbar gut war in »Laurence Anyways« von Xavier Dolan) verbüßt derweil eine Haftstrafe; weshalb, wird nicht ganz klar. Sie ist die uneheliche Tochter des reichen Unternehmers Serge Dumontet, den Jacques Weber als verwitterten alten Löwen spielt. Nathalie gibt sich für ihre Freundin aus, um Zutritt zu dessen Wohlleben zu erlangen. Er empfängt die verlorene Tochter mit offenen Armen, während ihr der Rest der Familie mit tiefem Argwohn begegnet. Der Fischgeruch haftet ihr noch an( Marnier hat bestimmt „Parasite“ gesehen), aber sie hat mehrere Eisen im Feuer.
Der Patriarch hat die Geschäfte nach einem Schlaganfall widerwillig an seine leibliche Tochter George übergeben, der Doria Tillier eine vergnüglich stählerne Aura verleiht. Überhaupt ist dies ein Film der stolzen Frauen, die das Wesentliche unter sich ausmachen. Die sammelwütige Ehefrau (Dominique Blanc) hat die stattliche Villa in Porquerolles in ein einziges Durcheinander verwandelt. Diese wird bevölkert von einer bizarren Menagerie. Es gibt eine undurchsichtige Haushälterin, der Sohn ist unter rätselhaften Umständen verschwunden, die Enkeltochter hat sich insgeheim aus dem Haushalt verabschiedet, ihr ist vorerst gleichgültig, was hier geschieht. Nathalie/ Stéphane, die sich als gewiefte Manipulatorin entpuppt, setzt nun alles daran, sich einen Platz in der Villa zu erobern und lieber kurz- als mittelfristig einen Teil des Erbes zu sichern.
In seiner DVD-Kolumne in der taz, die ich zuweilen mit Gewinn lese, hebt Ekkehard Knörer hervor, wie geschickt der Film fortan zwischen drei Welten (Fabrik, Gefängnis, Villa) zirkuliert. Ein erbitterter Klassenkampf entspinnt sich, der in Zügen an Chabrols „Biester“ erinnert. In der französischen Presse wurde diese Abkunft kaum erwähnt, sondern die Verwandtschaft zu »Knives out« und Ozons satirischen Zerfleischungsorgien betont. Tempi passati, siehe oben. Marniers Drehbuch schlägt zahlreiche muntere Volten, es hat Lust am Spiel mit den Konfrontationen. Für einen Moment sieht es beinahe so aus, als würde Nathalie eine gewisse Ordnung in die Familienverhältnisse bringen, dort vielleicht sogar eine Art von Gerechtigkeit etablieren. Eine böse Idylle formiert sich, in der mit dem Schlimmsten zu rechnen ist, auch mit Komplizenschaft.
Knörer macht namhaft, wie die Streitigkeiten als ein Kampf um den Bildraum inszeniert werden. Fürwahr, einen solch einfallsreichen Umgang mit dem Splitscreenverfahren hat man selten gesehen. Die Akteure treten nur selten in gemeinsamen Halbtotalen auf, sondern separiert in eigenen Bildsegmenten. Bündnisse werden gleichwohl geschmiedet, aber die Hierarchien verrücken. Auch die Leere des Raums ist tückisch. Marnier inszeniert das mal schleichend, mal brüsk. Nathalie belügt Familie, Anwältinnen und Polizei nach Strich und Faden. Ihr infamer Elan hätte Chabrol entzückt. Für Marnier sind die Figuren exotisch, er hält das Böse auf spöttischem Abstand. Der Meister jedoch wäre im »Haus der Lügen« in seinem Element gewesen.
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