Die Wärme bleibt
Es sind nicht nur die Meisterwerke, aus denen Sätze hängenbleiben. Das kann auch bei Filmen passieren, die bescheidener daherkommen. Plötzlich fallen Worte, die sich ins Gedächtnis einschleichen, leise Genieblitze, in denen Drehbücher über sich hinauswachsen. Manchmal aber spielt uns die Erinnerung einen gehörigen Streich.
Einer dieser Momente, die mich sacht verfolgen, stammt aus „Norman“ von Joseph Cedar. Es liegt acht Jahre zurück, dass ich ihn gesehen habe, aber einen besonderen Satz habe ich seither im Ohr. Vielleicht haben Sie ihn gesehen, falls nicht, rekapituliere ich kurz die Situation. Der so umtriebige wie undurchsichtige New Yorker Geschäftsmann Norman Oppenheimer (Richard Gere) wittert eine große Chance, als er Bekanntschaft schließt mit Micha Eshel (Lior Ashkenazi), der als Vertreter des israelischen Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit bei einer Konferenz spricht. Er folgt dem Staatssekretär, als dieser danach bei einem Schaufensterbummel die Zeit totschlägt. Ein Paar Schuhe fällt ihm in der Auslage eines Herrenausstatters ins Auge, er geht eher unentschlossen hinein. Norman ergreift die Gelegenheit, stellt sich vor und bietet an, Kontakte für ihn zu knüpfen. Der Politiker wirkt ein wenig kokett und eitel, aber ist durchaus froh über ein wenig Gesellschaft in der fremden Stadt. Die Zwei verstehen sich, es liegt ein Zauber über dem Rencontre. Isaach de Bankolé ist als vornehmer Verkäufer ganz wunderbar mit von der Partie. Eshel will eigentlich nichts kaufen, aber Norman besteht darauf, ihm die Schuhe zu schenken. Leisten kann er sich diesen Luxus ganz und gar nicht (was de Baknolé ahnt, worüber er jedoch diskret hinweggeht), aber Eshel, den ich nun doch besser Micha nennen sollte, lässt es erfreut geschehen.
Später berichtet er seiner Frau von der Begegnung: Er sagt, er habe jemanden getroffen, der „a warm Jew“ sei. Das sind die Worte, die mich seitdem begleiten. Es klingt Erstaunen aus ihnen, auch Dankbarkeit für die außerordentliche Fügung. Eine solche Großzügigkeit ist ihm bisher nicht widerfahren. Als Politiker ist er daran gewöhnt, Menschen mit Skepsis zu begegnen. Aber er meint, für einmal auf einen vertrauenswürdigen gestoßen zu sein. Ich denke, in diesem Moment hat der Film mich damals gekriegt. Tatsächlich hat „Norman“ mich damals so sehr beeindruckt, dass ich gleich mehrfach über ihn schrieb, zuerst die Filmkritik für epd, an dieser Stelle auch in dem Eintrag „In seinen Schuhen“ (am 22.9. 2017); später ergriff ich dankbar die Gelegenheit, eine Nahaufnahme des großartigen Lior Ashkenazi zu verfassen.
Das Problem ist nur: Die Worte, die sich mir so unwiderruflich eingeprägt haben, kommen im Film gar nicht vor. Ich habe ihn gerade noch einmal gesehen und begreife nicht, wie meine Erinnerung so fehl gehen konnte. Micha telefoniert nicht mit seiner Frau, sondern seinem Berater. Mit ihm spricht er nicht Englisch, sondern Hebräisch. Die Untertitel klären mich auf, dass er von einem „netten Juden“ spricht. Das klingt bei weitem nicht so schön. Sollte ich „a warm Jew“ in einem anderen Film gehört haben? Ausschließen kann ich es nicht.Fürwahr, ein in seiner Gründlichkeit absolut erstaunlicher Irrtum.Ich denke, es handelt sich um eine atmosphärische Erinnerung, denn die Wärme existiert in diesem Film.
Bevor ich mir die DVD auslieh, gab ich den Begriff in die Suchmaschine ein und erfuhr, dass „warm“ in diesem Zusammenhang „frum“ bedeuten könnte, die jiddische Vokabel für „fromm“. Das ist Norman mitnichten. Er besucht zwar häufig die Synagoge, aber nur, weil er kein Zuhause hat. Er ist ein ambulanter Geschäftemacher, ein Hochstapler. Im Bonusmaterial spricht Richard Gere klug über diese für ihn sehr ungewöhnliche Rolle. Norman will dazugehören, „ he wants to be essential“. Er ist wie eine Schildkröte in ihrem Panzer, er trägt seine eigene Welt mit sich. Ein Überlebenskünstler mit flexibler Moral und Loyalität, aber rätselhaft reinen Herzens.
Im zweiten Akt des Films begegnen die Zwei sich wieder. Jetzt ist Micha der israelische Ministerpräsident und hält Hof bei einem Empfang. Siehe da, er hat Norman nie vergessen, begrüßt ihn überschwänglich wie einen alten, verlorenen Freund. Die Wärme ist augenblicklich wieder da. Das Ganze kommt ziemlich märchenhaft daher, aber man möchte es um der beiden willen gern glauben. Sie knüpfen unmittelbar an den Moment an, der ihre Freundschaft besiegelte. Die Schuhe trägt er immer noch. Für Norman eröffnen sich von nun an unvorstellbare Möglichkeiten; man ist überzeugt davon, dass die Verbindung für beide Seiten gedeihlich werden wird. Im Kern will man vor allem der Illusion trauen, dass ein Politiker nahbar sein kann, erreichbar, empfänglich. Unmöglich, diesen Staatsmann mit dem aktuellen Ministerpräsidenten Israels zu verwechseln: Er will Frieden um jeden Preis.
Auch Eshel ist gewieft, er kennt sein Geschäft. „The opposite of compromise is not integrity,“ sagt er einmal. „the opposite is hate and killing“. Vielleicht hätte ich besser diesen Satz im Gedächtnis behalten sollen. Natürlich kommt es anders, als die Wiederbegegnung verhieß. Der persönliche Zugang wird Norman in der Tragikomödie durch Eshels Stab beharrlich verweigert. Der Film schlägt unterdessen zahlreiche Volten, Eshel ist in eine Korruptionsaffäre verwickelt und Norman weigert sich, als Kronzeuge gegen ihn auszusagen. Beide sind doppeldeutige Figuren, haben eine öffentliche und eine private Identität. Den Unterschied wird Micha nicht vergessen. Nie käme er auf den Gedanken, Norman sei ein nebbich. Gegen Ende spricht er dann tatsächlich mit seiner Frau über ihn. Auch er traut der Illusion der Nähe, er hat Schuldgefühle, etwas namenlose vielleicht. Sie hält ihm vor, er würde seinen Freund ausnutzen. Wir wissen, was es mit Normans Großzügigkeit auf sich hat, aber würden der gescheiten Frau dennoch nicht widersprechen. Cedar ist auf unser aller Seite. Für das, was die Gattin von ihrem Mann erwartet, gibt es im Jiddischen eine schönen Ausdruck: Sei a Mensch!
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