Comeback der Jahrhundertmitte
Die Zelluloidkopie von „Der Brutalist“, die zur Premiere nach Venedig verschifft wurde, wog sage und schreibe 140 Kilo. Brady Corbets Film ist nicht nur ästhetisch ein Koloss. Ich nehme jedoch an, die 70mm-Kopie, die ab heute im Berliner Delphi in Previews gezeigt wird, ist erheblich leichter. Es handelt sich um die einzige, die im deutschsprachigen Raum existiert. Das Delphi spielt sie ab dem offiziellen Kinostart eine Woche lang, danach gastiert sie im Gartenbaukino in Wien.
Weshalb die Premierenkopie ein solches Schwergewicht war, muss Ihnen ein in technischen Belangen beschlagener Autor im Detail erklären. Mich beschäftigt vielmehr die Frage, weshalb Corbet und sein Kameramann Lol Crawley ihren Film in dem 35mm-Format VistaVision gedreht haben, das später dann auf 70mm aufgeblasen wurde. In meiner Kritik im Februarheft nenne ich es ein "antikes" Format; vielleicht fällt mir heute ja noch ein passenderes Adjektiv ein. Es ist der erste US-Film seit 1961, seit »One-Eyed Jacks« (Der Besessene) von und mit Marlon Brando, der komplett in VistaVision gedreht wurde.
Im Gespräch mit "Indiewire" gibt Crawley eine erste Antwort auf obige Frage. Die hohe Auflösung des Breitwandverfahrens ermöglichte es ihnen, Lázlò Tóths Bauten gleichermaßen im Detail wie in ihrer Größendimension zu zeigen. In einem anderen Format wäre das nur mit Weitwinkelobjektiven gelungen, welche die architektonischen Linien jedoch verbogen, gekrümmt hätten. Crawley konnte die Räume öffnen, ohne dass sie verzerrt werden. Das Zusammenspiel von Nähe und Weite gehört, konkret wie allegorisch, zu den faszinierendsten Aspekten dieses Films
Das filmische Abbild der Architektur war schon vor »Der Brutalist« eine der schönsten Sorgen dieses Regisseurs. In seinem Langfilmdebüt »The Childhood of a Leader« tauchen regelmäßig Aufnahmen hoheitsvollen, menschenleeren Interieurs auf – es könnte zu einem Palast oder Regierungsgebäude gehören -, das von einer mächtigen Kuppel überwölbt wird. Später entdeckt man, dass es sich um Vorausblenden handelt: Sie erkunden eine Architektur der Macht, in der ein zukünftiges faschistisches Regime seine Zentrale hat. Auch in "Vox Lux" eignet der Baukunst ein Flair des Dräuenden, Ominösen – Ansichten von New Yorker Wolkenkratzern sind in ehrfurchtgebietender Untersicht gefilmt und erhalten dadurch eine Anmutung von Monumentalität, die jeweils von Paukenschlägen gewaltig unterstrichen wird.
In »Der Brutalist« kann man realisierte Architektur einerseits als Manifestation der Macht lesen, als Ausdrucksmittel einer herrschenden Klasse. (Deren fragile Kehrseite wäre der künstlerische Ausdruck.) Judy Becker, die Production Designerin des Films, ist mit der Rekonstruktion historischer Epochen vertraut; ihre Szenenbilder für »Carol«, »Amsterdam« und »Battle of the Sexes – Gegen jede Regel« weisen sie als eine schaulustige Spezialistin aus. Bemerkenswert am Blick auf das Nachkriegsamerika von »The Brutalist« ist, dass er weitestgehend ohne Wolkenkratzer auskommt. Tóth soll das Gemeindezentrum mitten in einer Hügellandschaft in Pennsylvania errichten. Der Architekt "liest" dieses Gefilde aufmerksam, sein Bau ist ein Akt der Landnahme, eine Pioniertat.
Es liegt nahe, bei Corbets Film an King Vidors »The Fountainhead« (Ein Mann wie Spregstoff) von 1949 zu denken, in dem Gary Cooper einen starrsinnigen Visionär vom Schlage Frank Lloyd Wrights verkörpert. Mein Freund Lars-Olav Beier fragte ihn beim Interview danach. Corbet erwiderte, ihn habe vielmehr dessen Verfilmung von »Krieg und Frieden« inspiriert, insbesondere dessen Verwendung des VistaVision-Formats. Als ich ihn mir gestern noch einmal anschaute, bekam ich eine Ahnung, was Corbet dabei im Sinn hatte. Im Gegensatz zum "flachen" Cinemascope konnte Vidor mit einer größeren Tiefenschärfe arbeiten. Seine Kompositionen sind oft in die Tiefe ausgerichtet und gestaffelt. Das gilt für die aristokratischen Interieurs ebenso wie für Außenaufnahmen, zumal für die Schlacht von Borodino, die Henry Fonda als Zaungast aus der Warte der russischen Artillerie mitverfolgt. Das Schlachtfeld liegt ihm zu Füßen, er kann die martialische Logistik und die Topographie der Hügellandschaft ausführlich betrachten. Das Zusammenwirken von Vorder-, Mittel- und Hintergrund ist atemraubend in dieser Schärfe. Vidor setzt das Format auch als Terrain der Intimität ein, namentlich in dem Moment, als Mel Ferrer auf einen Balkon tritt und Audrey Hepburn auf einem höher angeordneten Balkon belauscht. Die Fassade wird in der Untersicht zu einer Diagonalen.. Während Ferrers Delirium auf dem Sterbebett taumelt, ja stürzt die Kamera, was Corbet womöglich vor Augen hatte, als er die Eröffnungssequenz von „Der Brutalist“ (mit der kopfstehenden Freiheitsstatue) drehte.
Lars-Olav schickte mir den link zu einem Artikel auf der Website "Redsharknews", wo ich las, Corbet habe VistaVision auch deshalb gewählt, weil eines eine Mid-Century-Erfindung ist – das passt zu der restaurativen Epoche und ihrem innovativen Design. Es war 1954 Paramounts umgehende Antwort auf Cinemascope, das seinen Siegeszug ein Jahr zuvor begann. Das Logo mit dem hervorstechenden V verhieß "Motion Picture High Fidelity", ein smartes Versprechen in einer Zeit, als sich in US-Haushalten gerade Hi-Fi als Qualitätsstandard für Plattenspieler etablierte. Alles hochwertig: Weite, Tiefe, Klarheit. Da dieses Format ein ganzes Spektrum von Seitenverhältnissen (vom klassischen 1:1,33 bis zu 1:2.1) zuließ, eignete es sich nicht nur für Monumentalfilme wie »Die zehn Gebote«, sondern für eine Vielzahl von Genres. Es war angemessener als Scope, das oft mmit den Sujets kollidierte. John Sturges drehte seine großen Paramount-Western in VistaVision, es wurde bei den hauseigenen Jerry-Lewis-Burlesken eingesetzt sowie den ersten Hollywoodauftritten von Sophia Loren, deren Ehemann Carlo Ponti bereits »Krieg und Frieden« mitproduziert hatte. Gelegentlich lieh Paramount das Verfahren auch an andere Studios aus – beispielsweise an Warner Brothers (siehe „Ein Update, keine Erlösung“ vom 20. 10. letzten Jahres) oder die Rank Organisation in Großbritannien (in Ill met by Moonlight fangen Michael Powell und sein Kameramann Christopher Challis die zerklüfteten Berglanglandschaften Kretas magistral dramatisch ein). Gemeinhin wird VistaVision als Alfred Hitchcocks Lieblingsformat bezeichnet, das er zwischen »Über den Dächern von Nizza« und »Der unsichtbare Dritte« fast ausschließlich einsetzte. Corbet und Crawley studierten die Golden-Gate-Sequenz aus »Vertigo« eingehend: noch so eine wuchtige Diagonale, in der das Private und das Monumentale nebeneinander existieren.
Ab 1961 führte das Format ein bewegtes Schattendasein. Einige von den riesigen Kameras gibt es noch. Sie werden in Hollywood nach wie vor für komplexe Actionszenen verwendet (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_VistaVision_films) und blieben angeblich in Asien eine ganze Weile weiter im Gebrauch. Nagisa Oshima und Shohei Imamura soll das Format geschätzt haben. Im Vorspann von Imamuras »Vengeance is mine« tritt das markante Logo indes nicht in Erscheinung; vielleicht wird das Verfahren erwähnt, aber mein Japanisch reicht nicht aus, um die Schriftzeichen zu entziffern. Erlebt es nun seine Renaissance? Paul Thomas Anderson hat seinen jüngsten Film »The Battle of Baktan« ebenfalls in VistaVision gedreht. Ich kann es kaum erwarten, bis er bei uns herauskommt.
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