Die unbeantwortete Frage

Thomas Heise, dessen Tod die Akademie der Künste in Berlin gestern meldete, besaß eine Langmut, die im Filmgeschäft eher selten ist. Dokumentarfilme, meinte er, gewinnen ihre eigentliche Bedeutung erst Jahre, ja Jahrzehnte später. Auf seine eigene Geschichte bezogen, lag er damit zweifellos richtig.

Seine Filme wurden in der DDR verboten und lagen lange Zeit auf Eis. Wie er das nur durchhielt? Als die deutsche Öffentlichkeit spät, sehr spät aus ihrem Tiefschlaf angesichts rechtextremen Terrors aufwachte, war er plötzlich ein Mann der Stunde. Mit Neonazis und ihrem Umfeld hat er sich beharrlich auseinandergesetzt; nicht zuletzt in "Kinder. Wie die Zeit vergeht" (nein, dieser großartige Filmtitel hat kein Komma!), wo er 2007 geduldig achtsame Innenansichten der rechten Szene eröffnet. Heises Auffassung von Nachhaltigkeit war ein schönes Korrektiv zur Gegenwartseitelkeit, die bei Filmfestivals besonders grassiert. Seine Filme, die so aktuell zeitlose Titel wie »Eisenzeit«, »Vaterland« oder »Die Lage« und natürlich »Heimat ist ein Raum aus Zeit« tragen, haben längst ihre Relevanz bewiesen; nicht nur als Zeitdokumente. Schon während des Filmstudiums zeigte sich übrigens seine Gabe, verstiegene Filmtitel zu finden. "Wozu denn über diese Leute einen Film?" (1980/1989) steht programmatisch für seine Arbeit. Er interessierte sich für Charaktere, die sonst nicht im Fokus des Kinos stehen, besaß ein einzigartiges Talent, sie zu öffnen und zum Sprechen zu bringen. Er verstand es, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, die sich vom Verlauf der deutsch-deutschen Geschichte betrogen fühlen.

Sein künstlerischer Eigensinn entstammte nicht der Theorie. Vor dem Regiestudium an der damaligen HFF Potsdam (von der er 1983 aus politischen Gründen exmatrikuliert werden sollte, er kam dem  Verfahren aber zuvor)  absolvierte er eine Druckerlehre und war bei der DEFA Assistent von so bedeutenden Regisseuren wie Juli Raisman und Heiner Carow. Danach betrieb er seine eigene Strategie des Nachhaltigen, griff als Dokumentarist immer wieder Themen aus früheren Filmen auf, besucht ehemalige Drehorte und Gesprächspartner erneut. So wurde er zu einem Archäologen der geschichtlichen Verwerfungen. Nachdrücklich dementierte er das Versprechen auf blühende Landschaften, mit dem Helmut Kohl zum Kanzler der Einheit wurde. Seine Bilder der neuen Bundesländer besitzen keine lyrische Aura. In langen Kamerafahrten zeigt er den Verfall von Dörfern, Städten und Seelen. Seine Protagonisten sind verloren in der neuen Konsumwelt, der Anschluss an die neue Zeit misslingt ihnen. Bilder von Jugendlichen, die auf Bahnsteigen verharren, sind ein zentrales Motiv. In Stau (1992) und der Fortsetzung Neustadt (2000) eröffnet er verstörende Innenansichten einer xenophoben Gesellschaft. Die Schauplätze waren keine Orte, die ein Gefühl von Identität schaffen. Eine melancholische Ahnung, was Heimat bedeutet, regt sich selten in seinen Filmen. Den ersten Nachruf auf den "genialen Dokumentarfilmer" fand ich eben gerade in "Liberation", kenntnisreich und gar nicht so strikt aus französischer Perspektive von Luc Chessel verfasst.. 

An seinem seinerzeit rasch als Hauptwerk begriffenem Essayfilm »Material« (2009), einer Montage seiner unveröffentlichten Aufnahmen von Mauerfall und Wende, beeindruckte mich nicht zuletzt, dass die Tonspur noch eine andere Perspektive öffnete. Sie zitiert "The Unanswered Question" von Charles Ives, wo ausgerechnet amerikanische Volkstümlichkeit plötzlich eine dissonante Form annimmt. Mir ist klar, es gäbe Wesentlicheres über diesen Film zu sagen. Die hiesige Filmkritik hat ihn seinerzeit hinreichend gewürdigt, das Sperrige seines Kinos intrigierte selbstredend besonders die Fraktion mit dem stets richtigen Geschmack. Ich hingegen bin meist auf Umwegen zu Heise gelangt. Und hier bestrickte mich sein Rückgriff auf eine musikalische Avantgarde, die zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahrhundert alt war. Natürlich kann man bei Ives' Titel auch an Heises frühe Protagonisten denken, denen die Historie eine befriedigende Erwiderung schuldig blieb. Aber mich faszinierte die künstlerische Unbedingtheit seiner Wahl, die Freiheit, diesen kulturellen Sprung zu unternehmen. Danach erweiterte sich der Fokus seiner Arbeit, seinem Opus Magnum ließ er zwei Jahre später einen "kleinen" Film folgen, den er in Argentinien drehe: »Sonnensystem«. Nach Mexico City verschlug es ihn auch, was ich im Eintrag „Brecht muss nicht sterben“ vom 25. Januar 2015 schilderte. Ich hoffe, er vermittelt einen Eindruck seines Temperaments, bin aber nicht sicher, ob meine Betrachtungen die Zeit so gut überstehen, wie es Thomas Heises Filme tun.

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