Drei Inszenierungen

Gestern morgen sah ich mir "John Williams dirigiert John Williams" im Frühprogramm des WDR an. Ein schöner Anlass, sich im Nachklang Gedanken zu machen. An einem guten Konzert im Konzertsaal teilzunehmen, ist ein Erlebnis. Es im Radio zu hören, ein Ereignis. Eine Aufzeichnung vor dem Bildschirm zu sehen, ist eine Erzählung.

Als das Konzert im Oktober letzten Jahres in der Berliner Philharmonie aufgezeichnet wurde, wird es für das Publikum zweifellos ein Erlebnis gewesen sein. Es feierte Williams gleich nach dem Auftakt mit einer ersten Standing ovation, was sich danach bei jedem Stück wiederholte. Es waren viele Fans im Saal. Sie applaudierten gewiss auch dem Glück, an einem Moment teilzuhaben, der ihnen historisch erscheinen musste. Sie befanden sich in Gegenwart einer lebenden Legende. Williams war vom Olymp herab gestiegen und gab sich hier unten ganz bescheiden, demütig und humorvoll. Er machte der Stadt, dem Orchester und dem Publikum redlich Komplimente. Das Dirigat absolvierte er als freudige, neugierige Routine. Schauen Sie bei Gelegenheit einmal selbst. Die Mediathek der ARD hält die Aufzeichnung anscheinend zwar nicht vor, aber sie zirkuliert seit letztem Jahr durch die dritten Programme. In der Digital Concert Hall der Philharmoniker ist das Konzert in kompletter Fassung zu sehen.

Eine Radioaufnahme gibt es wohl nicht. Ich vermute, sie würde nicht annähernd so gut funktionieren. Das Programm war nicht gerade originell, eine Sammlung seiner größten Hits, die man jederzeit und aller Orten hören könnte; mit Ausnahme seiner "Elegy for Cello and Orchestra". Es war ein Fest der Schaulust. Die Live-Regie von Michael Mayer war dem Anlass gewachsen. Von den Mitarbeitern der Berlin Phil Media, welche die Aufzeichnungen des Orchesters für die digitale Konzerthalle produziert, bin ich bewundernswerte Geistesgegenwart gewohnt. Meist zeichnen sie das zweite von jeweils drei Konzerten auf, sie kennen also nicht nur die Partituren, sondern können schon ein wenig voraussehen, was auf der Bühne geschehen wird. Sie wussten, dass Williams viel sprechen, die Stücke vorstellen und knapp in sie einführen würde. Vielleicht war der Blick diesmal auch stärker als sonst auf den Dirigenten fokussiert.

Die Konzertaufzeichnung ist eine Disziplin, die millimetergenaue Präzision erfordert. Sie muss auf den Sekundenbruchteil reagieren. Den Einsatz eines prominenten Instrumentes zu verpassen, wäre unverzeihlich. Einen Paukenschlag muss man sehen, ihn aus dem Off zu hören, wäre eine sträfliche Vergeudung. Totalen des Orchesters sind eine geruhsame Konvention, mit der man haushalten muss; sie bilden meist einen Rahmen, der Anfang und Ende eines Satzes oder Stücks markiert. Williams' Musik verträgt mehr solcher Panoramen. Dazwischen gilt es, einen lebenden Organismus in seinem Ausdruck einzufangen. Die Kamera muss ganz nah dran sein, wenn ein einzelnes Instrument den Ton angibt. Wenn eine Bewegung durch das Orchester geht, beispielsweise durch die Reihen der ersten und zweiten Violinen, muss die Brennweite stimmen; am schönsten ist natürlich es, wenn die Kamera diese Bewegung selbst schwebend aufgreift. Die Inszenierung begibt sich bedingungslos ins Schlepptau der Spielfreude. Ihr Mandat ist aber auch atmosphärisch. Manchmal darf sie sich deshalb ein Verweilen gestatten, darf gar einen Blick werfen auf MusikerInnen, die gerade wartend zu hören.

Bei zwei Konzertaufzeichnungen habe ich in den letzten Wochen ganz Anderes erlebt. Es waren jeweils Benefizveranstaltungen für die Ukraine, die 3Sat samstagabends in Programm nahm. Die erste dirigierte mein Nachbar Lahav Shani (Sie kennen ihn vielleicht noch aus dem Eintrag "Urbaner Wohlklang" vom 19. Januar 2017.) mit MusikerInnen dreier Orchester in München und Anne-Sophie Mutter als Solistin. Für Lahav war das ein ganz besonderes Erlebnis. Die Freundin, mit der ich dies Beethoven-Programm sah, war begeistert von seiner Einfühlsamkeit und Zurückhaltung. Die Live-Regie des Bayerischen Rundfunks jedoch war über weite Passagen hin heillos überfordert. Bislang hatte ich immer gedacht, das vornehmliche Terrain dieses Metiers sei die Montage, die blitzgescheit reagiert. Aber hier wurde die Kadrage dem Geschehen selten gerecht. MusikerInnen wurden aus unglücklichen Blickwinkeln gefilmt und ihre KollegInnen waren nur in heiklem Anschitt präsent. Ständig fehlte mir der Kontext, in dem sie musizierten. Der Bildausschnitt war viel zu eng. Aber Enge stellt noch keine Nähe her. Vieles wurde einfach nicht zur Geltung gebracht. Hinter den Kameras standen offenbar Leute, die die Arroganz von Caroline Champetier besaßen, aber nicht deren Talent. Die Aufzeichnung wurde neben der Ausstrahlung auf 3SAt als Live-Stream gesendet. Auf die Bereitstellung in der Mediathek wurde barmherzig verzichtet; hören kann man das Konzert auf BR-Klassik.

Das Solidarkonzert des Konzerthausorchesters Berlin unter Christoph Eschenbach ist glücklicherweise noch bis zum 17. Juni auf 3SAT abrufbar. Auch für den Dirigenten muss dies ein außerordentliches Ereignis gewesen sein. In den Pausen gab er seiner persönlichen Betroffenheit Ausdruck; als Kind musste er aus dem zerbombten Breslau (Wroclaw) fliehen. Das Programm war eine Gratwanderung: Es liefen Schostakowitsch' "Konzert für Violoncello und Orchester" sowie dessen 8. Sinfonie; den Auftakt bildete eine aktuelle Bearbeitung von Valentin Silvestrovs "Gebet für die Ukraine". Atmosphärische Umsicht war mithin die entscheidende Aufgabe der Regie. Sie war heroisch konzentriert, schaffte Ordnung und Tiefe. Sie wat inspiriert: Achten Sie nur einmal auf die kurze Fahrt über hintereinander gestaffelte Notenblätter! Die Kameraleute waren sichtlich verliebt in die Musizierenden, schmiegten sich beherzt an ihr Gesicht und nicht zuletzt ihr Profil an. Die Instrumente nahmen sie zuweilen in extremen Close-ups auf, manchmal fokussierten sie nur auf eine einzige Saite oder einen Streicherbogen. Es entstand ein Eindruck von kostbarer und nicht erschlichener Intimität. Eine allseitige Verschwörung zum Gelingen, der in den letzten Momenten noch ein Glanzlicht aufgesetzt wurde. Beim Ausklingen der 8. blieb die Kamera lang auf Eschenbachs vibrierendem Stab. Der Dirigent wollte ihn nicht senken. Es war, als hielte er die Stille fest. Eine Andacht, fast eine Schweigeminute.

 

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