143 km bis Berlin
Am Wochenende war ich in »Gundermann« und meine Begleiterin meinte, er sei zwar einen Hauch zu lang, aber sie hätte auf keines der Lieder verzichten mögen. Mir ging es andersherum.
Inzwischen finde ich zwar auch nicht mehr, dass es ruhig ein, zwei Stücke weniger hätten sein können. Was ich aber auf keinen Fall missen möchte, sind die Einstellungen, die "Gundi" Gundermann auf dem Weg von oder zur Arbeit zeigen. Die Straßen sind meist leer, auf denen er zwischen seinen beiden Existenzen als Baggerfahrer und Liedermacher pendelt; sogar (oder erst recht) die A 13 zwischen Hoyerswerda und Berlin. Ich freute mich jedes Mal über diese kurzen Augenblicke des Transits. Obwohl sie von Bewegung handeln, sind sie eigentlich Momente des Innehaltens. Sie bringen eine kurze Ruhe in die Erzählung dieses atemlosen Lebens. Das relative Fehlen von Straßenverkehr trägt enorm dazu bei, dass Andreas Dresens bewährter Schnittmeister sie als atmosphärische Parenthesen setzen kann. Ich kann mir allerdings ebenso gut vorstellen, dass sie schon in Laila Stielers Drehbuch standen. Selbst die Rauchschwaden der Kohlekraftwerke in der Lausitz wirkten friedlich auf mich. In der verlässlichen Wiederholung dieser Stimmungsbilder lag für mich ein Flair von Alltag und Zuversicht.
Nun also Hoyerswerda. Dresen hat seine bisherigen Filme (dabei muss man weder »Timm Thaler« noch seine Dokumentarfilme um den CDU-Kandidaten Wichmann ausnehmen) tief in ihren Schauplätzen verwurzelt: »Stilles Land« in Anklam, »Die Polizistin« in Rostock, »Halbe Treppe« in Frankfurt/Oder, »Willenbrock« bei Magdeburg, »Als wir träumten« in Leipzig; »Sommer vorm Balkon« schließlich könnte nirgendwo anders spielen als am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg. Ebenso wichtig wie der Ort ist die erzählerische Verwurzelung in der Zeit: in seinem Langfilmdebüt das Untergehen der DDR, bezeugt aus dem Blickwinkel der Provinz; in »Als wir träumten« die Nachwendezeit; in »Gundermann« nun die zwei letzten Lebensjahrzehnte des Sängers, von denen Dresen und Stieler berichten können, ohne den Mauerfall je zu erwähnen. Alltag und Zuversicht.
Sein neuer Film bekräftigt für mich auf ziemlich beglückende Weise, was sich mit »Halbe Treppe« und »Sommer vorm Balkon« schon herauskristallisierte: Dresen ist, neben Volker Koepp, unser vornehmster Regisseur von Heimatfilmen. Ein verbranntes Wort, seit den 50er Jahren genießt dies Genre hier zu Lande keinen guten Ruf. Damals sollte es dem bundesdeutschen Publikum Halt geben nach der Entwurzelung des Zweiten Weltkriegs und kam deshalb ohne Brechungen aus. Seither hat es, insbesondere in den 70ern, zwar einige Ansätze von aufklärerische Revisionen gegeben. Aber Dresens Haltung hat mit beiden Strömungen wenig gemein. Gewiss, er verhandelt die Erschütterung der Wende, erzählt von Identitätsverlust, aber eben auch von der schwierigen Beheimatung in einer neuen Zeit. Anders als in der Blütezeit des Genres ist die Heimat bei ihm nicht geschenkt, sondern eher verloren oder wird erworben. Er findet sie sogar im urbanen Ambiente. Aus der klassischen Motiv-Trias - Raum, Tradition und Gemeinschaft - sucht er sich eigentlich nur das letztere aus, obwohl seine Geschichten schon die unmittelbare, räumliche Reichweite eines Mikrokosmos brauchen. Das Lebensgefühl steht für ihn im Vordergrund, das in einem engen sozialen Gefüge entstehen kann. Handwerk und Milieu des Braunkohletagebaus etwa scheinen mir wunderbar präzise eingefangen. Dresen und Stieler sind freundliche, aber keine sentimentalen Figurenzeichner; die vergehende Heimat ist weder lieblich noch unschuldig. Freundschaft und Verrat gerieten schon früher bei ihm in Widerspruch, und den spezifischen Mutterwitz trifft er auch ohne Wolfgang Kohlhaase.
Dresen ist ein Regisseur, der begreift, wie Zugehörigkeit entsteht. Ich vermute, Gundermanns Heimat ist letztlich seine Frau Conny. Nach dem Film waren meine Begleiterin und ich uns noch in einem anderen Punkt uneins. Sie nahm ihm nicht ab, dass er wirklich vergessen habe, wie viel er als IM der Stasi berichtet hat. (Er selbst sagt einmal, ihn würde vor allem das "Ausmaß" erschrecken.) Ich hingegen habe es ihm geglaubt. Gestern sah ich einen Film aus dem Jahr 1949, der mir dieses Dilemma ebenfalls vor Augen führte, »Der Ruf« von Josef von Baky und Fritz Kortner, die Geschichte einer tückisch vereitelten Re-Emigration. Kortner findet seine Frau wieder, die in Nazi-Deutschland zurückblieb. Sie kann oder will sich nicht erinnern, ob sie die Gesinnung des Regimes geteilt hat. (Auch zwischen ihnen ist das "Ausmaß" ein Thema.) Es ist ein Trümmer-, ein Anti-Heimat-Film, aber er unterstreicht, was in Deutschland unverzichtbar ist für dieses Genre: die Gunst des Vergessens.
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