Bedingt zukunftsfest
Im Rahmen des London Filmfestival fand im letzten Oktober eine anscheinend höchst interessante Podiumsdiskussion statt, die das British Film Institute organisiert hatte. Als Teilnehmer waren u.a. Christopher Nolan, die bildende Künstlerin Tacita Dean, der legendäre Cutter und Sound Designer Walter Murch sowie Repräsentanten britischer Kinoketten und der Leiter der Tate Modern geladen. Ich wurde auf sie aufmerksam durch einen Artikel von Robbie Collin, der ebenfalls auf dem Podium saß.
Es ging, wieder einmal, um die Digitalisierung. Mit Nolan und Dean waren zwei Künstler geladen, die emphatisch am analogen Filmmaterial festhalten; die Anwesenheit eines Museumsdirektors hingegen legte nahe, dass dieses bald nur noch ein Nischendasein fristen wird. Ich war besonders gespannt auf die Wortmeldungen von Murch, dessen Arbeit an Filmen wie »Der Dialog«, »Apocalypse Now« oder »Der talentierte Mr. Ripley« ich seit langer Zeit mit großer Faszination und lässlichen Vorbehalten verfolge. Bei der Übersetzung seiner Gespräche mit dem Schriftsteller Michael Ondaatje (»Die Kunst des Filmschnitts«) habe ich ihn als einen veritablen Renaissancemenschen kennengelernt, dessen Interessen, Kenntnisse und Talente ein ungeheuer breites Spektrum umfassen. Über seinen Beruf legt er sich klug Rechenschaft ab und denkt weit über den Tellerrand hinaus. denkt. Seine Überlegungen sind stets überraschend (die Väter des Kinos sind für ihn Edison, Flaubert und Beethoven) und assoziationsreich.
Mithin interessierte es mich brennend, ob er sich nun als Fürsprecher oder aber Gegner der Digitalisierung zu Erkennen geben würde. In London berichtete er von einem Experiment, das er einige Zeit zuvor durchgeführt hatte – neugierig und ergebnisoffen, da konnte ich mir sicher sein. Er nahm die Einstellung eines leeren Raums zunächst auf Filmmaterial und dann digital auf, um zu sehen, worin der Unterschied zwischen ihnen bestehen könnte. Der Eindruck, den er beim Ansehen des Filmmaterials gewann, war der eines steigenden Potenzials: Er erwartete, dass gleich jemand den Raum betreten würde. Beim Video war es genau umgekehrt, da wirkte der Raum, als habe ihn gerade jemand verlassen.
Das ist einerseits ein schlagendes Bild für die auratischen Unterschiede zwischen beiden Trägermedien. Es führt zugleich vor Augen, dass die digitale Revolution auch einen Abschied bedeutet. Sie stellt einen technischen Fortschritt dar, aber kein Wunder. Wie verheerend sich die Digitalisierung auf den Bestand des Filmerbes auswirken könnte, wurde mir erst gestern wieder bewusst, als ich eine Mail vom Büro der Bundestagsabgeordneten Tabea Rößner erhielt. Sie vertritt die Fraktion der Grünen im Ausschuss für Kultur und Medien und fungiert als deren Sprecherin in medienpolitischen Fragen. Sie hatte eine mündliche Anfrage an die Bundesregierung zur Archivierung von analogen Filmkopien gestellt, auf die sie eine niederschmetternde Antwort erhielt.
Frau Rößner ist besorgt angesichts der Vernichtung historischen Filmmaterials. Wenn ich in ihrem Wahlkreis leben würde, wüsste ich direkt, wohin ich mein Kreuz bei der nächsten Wahl setzen müsste. Sie fordert eine "zukunftsfeste" Sicherung. Ein schönes Wort, das ich nun aber wohl viel zu spät kennenlerne. Die Haltung der Regierung ist eindeutig. Nachdem Unternehmen wie Arri ihre Kopierwerke aus wirtschaftlichen Gründen mittlerweile geschlossen haben, plant auch das Bundesarchiv, seine Kopierwerke in Koblenz und Berlin aufzugeben. Der Bestand soll fortan nur noch digital archiviert werden. Die Argumente dafür scheinen nicht von der Hand zu weisen: Die Produktion von analogem Material laufe aus und die Nutzer des Archivs forderten ohnehin meist nur noch digitale Datenträger an. Die Regierung hat den Raum verlassen.
Das Signal, dass damit an Kinematheken und Filmarchive ausgesendet wird, scheint mir fatal. Sie hängen am Tropf von Bundes- und Ländermitteln. Welche Ratlosigkeit dort inzwischen herrscht, war bereits Gegenstand meines Eintrags "Des Kaisers neue Kleider" vom 17. Februar letzten Jahres. Was wird also vom Filmerbe noch bleiben, zumal die digitale Restaurierung zwar praktische Vorteile bietet, aber auch immense Kosten verursacht? Die aktuelle Politik wird zwangsläufig zu einer reduzierten Sichtbarkeit der Filmgeschichte führen. Spätere Generationen werden vielleicht noch davon gehört haben, dass es einmal ein Stummfilmkino gab. Aber sie müssen zu dem Glauben gelangen, es bestehe nur aus »Metropolis«. Das unverzichtbare Ziel, den erhaltenen Bestand auf Filmkopien zu bewahren, deren Existenz bei sachgemäßer Lagerung für Dutzende, vielleicht gar Hunderte von Legislaturperioden gesichert bleibt, ist in weite Ferne gerückt.
Woher rührt dieser Mangel an Einsicht? Wie lange muss eigentlich noch auf die abgrundtiefe Skepsis der Experten gegenüber der digitalen Konservierung hingewiesen werden? Bereits im November 2011 fand ein Fachgespräch des Ausschusses Kultur und Medien zum Themenkomplex Filmerbe, Archivierung und Digitalisierung statt. Damals wurde auch der Verband der deutschen Filmkritik um eine Stellungnahme gebeten, an der ich mitwirkte und die dann dankend ignoriert wurde. Eine zwischen Brüssel und Berlin irrlichternde, vorwiegend mit sich selbst beschäftigte Bürokratie hat anscheinend aber nicht einmal ein Ohr für die Warnrufe von Fachleuten, die tagtäglich mit den Problemen der Archivierung und Restaurierung konfrontiert sind. Die wissen, dass die Digitalisierung keine Zauberformel ist, mit der sich auf einmal alles retten lässt. Schwer zu sagen, ob die Ignoranz der politischen Klasse nur naiver Fortschrittsgläubigkeit oder guter Lobbyarbeit der Industrie geschuldet ist. Es ist gespenstisch. Nicht einmal das Argument der horrenden Kosten, die bei der Datenmigration von einem unsicheren Trägermedium zum nächsten entstehen werden, scheint zu verfangen. Vielleicht liegt es doch an der Lobbyarbeit.
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