Tags im Museum 1
Fiel er dem Kameramann überhaupt auf? Und wenn ja, war er für ihn nur ein Störfaktor? Er ist nur im Anschnitt zu sehen, aber immer wieder drängt sich der Rollstuhlfahrer ins Bild. Er wird nie mehr sein als eine Randfigur, denn im Zentrum der Handlung steht eine Treppe. Auf ihr findet das mondäne Spektakel statt, dort drängen die Schaulustigen empor.
Mit dieser von Operateuren der Brüder Auguste und Louis Lumière gefilmten Szene begrüßt eine Ausstellung ihre Besucher, die den Titel „Paris 1900, la Ville spectacle“ trägt und noch bis zum 17. August im Petit Palais läuft (http://www.petitpalais.paris.fr/fr/expositions/paris-1900-la-ville-spectacle). Die Treppe, die am Eingang zu sehen ist, ist eben die des Petit Palais, der wie sein großer Bruder Grand Palais' eine Hervorbringung der Pariser Weltausstellung von 1900 ist. Die vorzügliche Ausstellung nimmt die Exposition universelle von damals als Ausgangspunkt, um ein Panorama der Belle Époque zu entfalten. Filme der Brüder Lumière fungieren als Scharnier, sind in den Korridoren zwischen den einzelnen Sälen zu sehen, die unterschiedlichen Themen wie „Paris als Vitrine der Welt“, „Haupstadt der Kunst“, „Der Jugendstil“ und dem „Mythos der Pariser Frau“ gewidmet sind. Es ist die zweite Ausstellung, die ich bei meinem Aufenthalt in Paris besuche (über die erste, die Henri Langlois, den Gründer der Cinémathèque zum Thema hat, werde ich in epd Film noch ausführlich berichten). Historische Weltausstellungen sind, als Archäologie des Fortschritts, eine großes Faszinosum für mich.
Ich erwarte nicht, dass Sie meine Begeisterung voll und ganz teilen. Sie sind schließlich auch Ausdruck einer kolonialistischen Anschauung. Aber Sie werden mir zustimmen, dass sie als Phantasma eine unbestreitbare Verwandtschaft zum Kino besitzen. Sie entsprangen im 19. Jahrhundert der Sehnsucht, die Vielgestaltigkeit der Welterfahrung an einem Ort zu konzentrieren, sie überschaubar werden zu lassen. Gewiss, ein rätselhaftes Bedürfnis. Ebenso wie das Kino schufen sie Kulissenwelten; zwar massiv gebaut, aber in der Regel mit ähnlich befristetem Bleiberecht wie Filmdekors.
Es war die erste, in der das Kino eine zentrale Rolle spielte. 18 Filmproduzenten hatten einen Stand auf dem Gelände. Der Kinomagier Georges Méliès träumte davon, das Ereignis als Erster zu filmen und seine Impressionen dieser Glanzstunde der Belle Epoque an seine Kunden in aller Welt zu verkaufen. Mehr als ein Dutzend Filme entstanden in jenen Sommermonaten. Méliès postierte seine Kamera auf einem Schiff, um die Länderpavillons und andere Sehenswürdigkeiten entlang des Seineufers zu filmen. Besonders fiel ihm der „rollende Bürgersteig“ ins Auge, auf dem sich die Besucher in drei verschiedenen Geschwindigkeiten über das ausgreifende Ausstellungsgelände fortbewegen konnten - er filmte ihn gleich zweimal. Auch Thomas Alva Edisons Operateure waren fasziniert davon. Darüber hinaus steckte die Schau voller kinematographischer Attraktionen. Der ehemalige Fotograf Clément Maurice führte ein frühes Tonfilmexperiment vor: Dank des „Phono-Cinéma-Théâtre“ konnte man die Schauspielerin Sarah Bernhardt gleichzeitig sehen und hören.
Im „Cinéorama“ wurden auf einer kreisförmigen Leinwand handkolorierte Landschaftspanoramen vorgeführt. Es erweckte die Illusion eines gefahrlosen Ballonfluges. Zehn 70mm-Projektoren mussten dafür absolut synchron laufen. Die dabei entstehende Hitze bereitete vielen Besuchern jedoch Unwohlsein; die Polizei schloss den Stand nach drei Tagen wegen der großen Feuergefahr.
Die erfolgreichsten und zukunftsweisendsten Filmvorführungen veranstalteten jedoch die Brüder Lumière. Sie hatten grandiose Pläne, die dem Anlass angemessen waren. Auf einer Leinwand von 21 mal 16 Metern (die, da sie keine Nähte haben durfte, von einem Produzenten von Heißluftballons hergestellt wurde) führten sie in der Galerie des Machines allabendlich ein halbstündiges Programm vor einem Publikum vor, das bis zu 25000 Menschen umfasste. Sie aktualisierten das Programm regelmäßig und führten insgesamt 150 Filme vor. Die Weltausstellung sollte zur Apotheose ihres Schaffens werden. Dem Kino, das bis dahin eine nomadische Existenz fristete, gaben sie einen neuen Ort gegeben. Der Erfolg ihrer Vorführungen besiegelte dessen Aufstieg zu einer Kunstform, die man wie das Theater konsumierte: Im Sommer 1900 entschied sich in Paris, dass das neue Medium keine kurzlebige Modeerscheinung bleiben sollte.
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