RTL+: »Zwei Seiten des Abgrunds«

»Zwei Seiten des Abgrunds« (Miniserie, 2022). © RTL+

»Zwei Seiten des Abgrunds« (Miniserie, 2022). © RTL+

Abgerechnet wird zum Schluss

Die ersten Bilder, ein Vorgriff. Die Luftbildkamera erfasst eine einsam gelegene Waldhütte. Ein heftiger Wortwechsel zwischen Mann und Frau. Ein Rabe späht durchs Fenster. Ihre Handgelenke sind an eine Stuhllehne gefesselt. Eine Waffe kommt ins Spiel. Irgendwann fällt ein Schuss.

Das Interesse des Publikums ist geweckt, und es wird über die vollen sechs Folgen dieses Mehrteilers kaum erlahmen. Der Drehbuchautorin Kristin Derfler und Regisseur Anno Saul gelingt es, einerseits vielfältige Facetten dieser Geschichte aufzufächern, andererseits so dicht und packend zu erzählen, dass Genrefreunde ohne Abstriche auf ihre Kosten kommen.

Der Hauptteil setzt damit ein, dass die Streifenpolizistin Luise Berg (Anne Ratte-Polle) und ihre Kollegin Nadisa (Senita Huskić) in einen Baumarkt gerufen werden, um einen tobsüchtigen Jungen festzunehmen. Im Hinausgehen entdeckt Luise an der Kasse ein vertrautes Gesicht. Sie hat sich nicht getäuscht. Bei dem Kunden handelt es sich um Dennis Opitz (Anton Dreger), der vorzeitig aus der Haft entlassen wurde. Luise ist außer sich. Der junge Mann hat ihre Tochter Merle (Josephine Thiesen) ermordet.

Opitz wurde eine »vorbildliche Sozialprognose« attestiert. Seine frühere Pflegemutter, Dr. Yvonne Aschhausen (Ann-Kathrin Kramer), stellt ihm Wohnräume zur Verfügung, er hat einen Arbeitsplatz, meldet sich pünktlich bei seiner Bewährungshelferin. Luise Berg ist die Einzige, die dieser gelungenen Resozialisierung misstraut. Für sie ein Indiz mangelnder Läuterung: Dennis hat am Ort von Merles Ermordung einen Strauß Rosen niedergelegt. In ihren Augen eine zynische Verspottung der Toten und der Hinterbliebenen.

Sie berichtet ihrem Ex-Mann Manuel (Renato Schuch), der inzwischen eine neue Familie gegründet hat, von ihrem Verdacht, auch dem damals zuständigen Kriminalermittler, und stellt Fragen. Sie wird zurechtgewiesen. Man unterstellt ihr Voreingenommenheit, Hysterie, Rachegelüste.

In Rückblenden wird nach und nach die Vorgeschichte eingeflochten. Besser gesagt: die Vorgeschichten, denn hier laufen mehrere Stränge, mehrere Schicksale aufeinander zu, münden in eine komplex geartete Tragödie. Dennis Opitz, damals ein übergewichtiger, scheuer, sprach- und lernbehinderter Knabe, der von Merle Nachhilfeunterricht erhielt, hat sich im Gefängnis zumindest äußerlich gewandelt, ist jetzt schlank, sportlich, und er weiß sich zu artikulieren. Aus Zuschauerwarte eine undurchsichtige Figur. Mal hat er das Publikum an seiner Seite, mal weckt er dessen Argwohn. Er verfolgt ganz offensichtlich einen Plan. Wohin der ihn und die übrigen Beteiligten führen soll, bleibt lange rätselhaft.

Eine wesentliche Rolle spielt Josi (als Teenager gespielt von Lea van Acken). Sie war zehn, als Merle ermordet wurde, hegt seither ein Geheimnis. Der Zufall will es, dass sie Dennis in einem Club begegnet. Unmöglich, in dem gescheiten, ansehnlichen jungen Mann den Dennis von damals zu erkennen. Nur eine der Verwicklungen, die konstant für Nervenkitzel sorgen.

Als Hauptschauplatz wurde Wuppertal gewählt, und das Team weiß Kapital zu schlagen aus den Besonderheiten dieser Stadt: der Schwebebahn, den Ufern der Wupper. Symbolträchtig: die spindelförmige Siedlung, in der Manuel mit Josi, seiner neuen Frau und zwei weiteren Töchtern wohnt, ebenso der Staudamm, der als Bindeglied zu einem weiteren Ort der Handlung fungiert.

Es gibt ein Motiv, das sich, wie andere, erst peu à peu erschließt: Frauenfreundschaften in mehreren Facetten, in unterschiedlichen Generationen. Ein Beispiel für den inhaltlichen Reichtum dieses Sechsteilers, der sich als Genrekrimi, mithin als leichte Kost goutieren lässt und zugleich zur gedanklichen Auseinandersetzung herausfordert.

Nur einer Zutat hätte es nicht bedurft: Mozarts Requiem wird mehrfach als Stimmungsverstärker eingesetzt, wirkt aber, wie irrtümlich in den Soundtrack geraten.

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