Netflix: »Pflicht und Schande«

»Pflicht und Schande« (Staffel 1, 2019). © Netflix

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Zwei Welten

So massiv ist die Menge an »Content« gewachsen, dass es schon mal passieren kann, dass man die besten Serien oder Filme einfach übersieht. Oder einfach nicht mitbekommt, dass die hierzulande überhaupt verfügbar sind. So wie die BBC-Produktion »Giri/Haji« (wörtlich übersetzt aus dem Japanischen: »Pflicht/Schande«) aus dem Jahr 2019, die im englischsprachigen Raum durchaus für ein bisschen Aufsehen und BAFTA-Ehrungen sorgte, aber bei uns ein Dasein unter »ferner liefen« bei Netflix fristet.

Der achtteilige Thriller schlägt den Bogen zwischen zwei Welten, wobei die Bezeichnung als Culture-Clash-Geschichte der Sache nicht hinlänglich gerecht würde. Der japanische Kommissar Kenzo Mori (Takehiro Hira) wird von Tokio ins ihm vollkommen fremde London geschickt, als dort der Neffe eines mächtigen Yakuza-Bosses ermordet wird. Ganz offiziell ist seine Ermittlung nicht: Als Tarnung gibt er vor, im Rahmen eines polizeilichen Austauschprogramms einen Kriminologiekurs bei Detective Constable Sarah Weitzmann (Kelly Macdonald) zu besuchen. Nebenbei verfolgt er allerdings auch eine private Mission. Denn er fürchtet, dass in den Fall sein jüngerer Bruder Yuto (Yōsuke Kubozuka, aus Scorseses »Silence«) verwickelt sein könnte, der einst in Yakuza-Diensten stand und seit längerem in Europa verschwunden ist.

Die japanische Seite dieser von Autor Joe Barton (jüngst auch für den Film »Encounter« verantwortlich) erdachten Geschichte ist nicht bloß exotisch schmückendes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil. Weite Strecken der Dialoge sind auf Japanisch mit Untertiteln, und immer wieder springt die Erzählung – sowohl in Rückblenden als auch in der Gegenwart – nach Tokio, wo Kenzo nicht nur eine frustrierte Ehefrau, eine rebellische Teenagetochter und seine Eltern zurückgelassen hat, sondern auch mit unterschiedlich vertrauenswürdigen Kollegen in Kontakt steht. Sogar mit Manga-Elementen wird bei den geradezu poetischen Zusammenfassungen der vorangegangenen Folgen gearbeitet.

Überhaupt sind es die Gratwanderungen, die »Giri/Haji« zu einer exzellenten Serie machen. Der Spagat zwischen britischem Polizeikrimi und brutalem japanischem Mafiathriller, zwischen sich zart entwickelnder Liebesgeschichte und beinahe melodramatischer Familien-Soap ist waghalsig und ungewöhnlich, gelingt aber hervorragend. Das Ergebnis ist nicht nur enorm spannend und sieht fantastisch aus, sondern entwickelt auch (trotz eines Übermaßes an Nebenfiguren) erstaunliche emotionale Wucht.

Neben Bartons Drehbüchern ist dafür natürlich das exzellente Ensemble um Takashi-Miike-Veteran Hira und die verlässlich sehenswerte Emmy-Gewinnerin Macdonald verantwortlich. Eine besondere Erwähnung verdient dabei Will Sharpe (aktuell bei »Landscapers« oder dem Kinofilm »Die wundersame Welt des Louis Wain« eher als Regisseur aktiv), der als halb-japanischer schwuler Sexarbeiter Rodney wie so vieles bei »Giri/Haji« weit mehr zu bieten hat als Klischees.

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