Hirokazu Kore-eda: Wunder des Alltags
Regisseur Hirokazu Kore-eda am Set von »Shoplifters« (2018)
Sein neuer Film »Shoplifters« hat in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Aber Hirokazu Kore-eda ist schon lange Japans wichtigster Auteur
Sechs Monate lang haben sich der zwölfjährige Koichi und sein wenige Jahre jüngerer Bruder Ryunosuke nicht gesehen. Seit der Trennung ihrer Eltern leben sie an den entgegengesetzten Enden der Insel Kyushu. In dieser Nacht sind die beiden wieder vereint – auf halber Strecke gewissermaßen, dort, wo sich am nächsten Morgen die Hochgeschwindigkeitszüge der neuen Kyushu-Shinkansen-Trasse erstmals begegnen werden. Einer modernen Legende zufolge setzt dieser Moment eine magische Energie frei, die Wunder bewirken kann. Wer das Ereignis beobachtet, dem wird ein Wunsch erfüllt.
Koichi, der seine Familie unbedingt wieder zusammenführen will, glaubt fest an die Wunderkraft der Züge. Vorerst aber sitzen die Brüder auf der Veranda des Hauses eines älteren Ehepaars, das sie und ein paar Freunde aufgenommen hat, und blicken in die Nacht. Koichi hat zwei kleine Karukan-Kuchen, eine Spezialität der Insel Kyushu, mitgebracht, die sein Großvater gebacken hat. Nachdem Ryunosuke den ersten Bissen genommen hat, fragt Koichi, wie es ihm schmecke. Eben diese Frage hatte ihm sein Großvater vor ein paar Tagen auch gestellt. Und genau wie er zuvor, beschreibt Ryunosuke den Geschmack als »flau«. Koichi sieht das inzwischen etwas anders. Nun empfindet er das weiße, kastenförmige Gebäck als sanft und doch reich. Seine erste, kindliche Reaktion, die von einer Sehnsucht nach geschmacklicher Überwältigung zeugte, ist in nur wenigen Tagen einem tieferen Empfinden gewichen, das Nuancen nachspürt und nicht sofort urteilt.
Diese Szene aus »I Wish« (2011) dauert nur ein paar Minuten und ist doch emblematisch für das Schaffen des 1962 in Tokio geborenen Filmemachers Hirokazu Kore-eda. Immer wieder stehen Kinder im Zentrum seiner auf den ersten Blick meist unspektakulären, in Wahrheit aber ungeheuer reichen Filme, die darin den Karukan-Kuchen von Koichis Großvater ähneln. Schon Kore-edas erster Film, die Dokumentation »Lessons from a Calf« (1991), folgte der Entwicklung einer Schulklasse, deren Lehrplan von einem einzigen Projekt bestimmt wurde: Die jungen Schülerinnen und Schüler haben über drei Jahre hinweg ein Kalb aufgezogen und sich darüber klassischen Unterrichtsfächern wie Mathematik und Biologie, Kunst und Hauswirtschaft genähert.
Das ganze Universum in einer kurzen Szene
Die Erfahrungen, die Kore-eda in den drei Jahren gemacht hat, in denen er die Kinder mit seiner Kamera begleitete, prägen sein Schaffen bis heute. Wenn er wie in »I Wish« mit Kindern dreht, ist er eher Beobachter als Regisseur. Das Gespräch der vom Leben auseinandergerissenen Brüder folgt zwar seinem Drehbuch, aber der Ton der Szene wird ganz vom Spiel ihrer Darsteller, den Brüdern Kôki und Ohshirô Maeda, bestimmt. Yutaka Yamazakis ruhig verharrende Kamera wahrt Abstand und lässt ihnen damit den Raum, den sie brauchen, um in ihren Rollen aufzugehen. Natürlich hat Koichis Bekenntnis, dass ihm die Karukan seines Großvaters ans Herz gewachsen sind, etwas Altkluges. Er setzt sich vor seinem kleinen Bruder in Szene, aber eben mit einer kindlichen Selbstverständlichkeit, die nichts Gekünsteltes hat. Die paar Tage, die seit seinem ersten Bissen in einen dieser Kuchen vergangen sind, haben Koichi tatsächlich verändert. Er sieht nicht nur diese Süßigkeit mit anderen Augen. In dieser Verwandlung offenbart sich zumindest ein Teil des vom japanischen Originaltitel »Kiseki« beschworenen »Wunders«.
Aber es ist nicht nur die Freiheit, die Hirokazu Kore-eda seinen beiden Kinderdarstellern lässt, die Szene ganz aus ihren Stimmungen heraus zu entwickeln. Ihr nächtliches Beisammensein gleicht tatsächlich einem Konzentrat seiner Themen, Motive und Ideen. Immer wieder kommen in Kore-edas Filmen Familienmitglieder zusammen, um gemeinsam zu essen. Der Genuss, den ihnen die oft von Vertretern der älteren Generation zubereiteten Speisen bereiten, eröffnet dem Dialog zwischen Familienmitgliedern, die sonst kaum etwas verbindet, eine neue Ebene. Wenigstens am Esstisch wird die Familie noch einmal eins.
Außerdem schwingen in Szenen wie der zwischen Koichi und Ryunosuke unausgesprochen die tiefgreifenden Veränderungen mit, die die japanische Gesellschaft in den vergangenen 50 Jahren durchlaufen hat. Während die beiden Brüder die kleinen Kuchen essen, haben sie teil an Traditionen, die dabei sind, für immer zu verschwinden. Ihr Großvater hat nicht nur begonnen, wieder als Bäcker zu arbeiten, um seine Pension etwas aufzubessern. Er bäumt sich mit seinen Karukan auch gegen die neuen Bäckereien und Süßwarengeschäfte auf, die in seinen Augen für ein durch und durch kommerzialisiertes Japan stehen, das nicht mehr seine Welt ist. Einmal hat er Koichi in eines dieser Geschäfte geschickt, damit sein Enkel dort etwas für ihn kauft. Der alte Mann selbst will es nicht betreten. Der Riss, der durch Japan geht, ist zu gewaltig, als dass er ihn noch überwinden könnte. Aber vielleicht gelingt es seinen Enkeln, Vergangenheit und Gegenwart ein wenig miteinander zu versöhnen. Die kleine Szene auf der Veranda nährt eine solche Hoffnung. Auch das käme dann einem Wunder gleich.
Familie im Umbruch
Seit sich Hirokazu Kore-eda mit Filmen wie »Nobody Knows« (2004) und »Still Walking« (2008) Familiengeschichten zugewandt hat, werden seine Arbeiten, vor allem von westlichen Autoren, fortwährend mit den Werken Yasujirō Ozus verglichen. Und auch wenn er selbst die Verbindungen zwischen seinen und Ozus Filmen herunterspielt und betont, dass ihn vor allem Filmemacher wie Ozus Zeitgenosse Mikio Naruse und der britische Sozialrealist Ken Loach beeinflusst haben, lassen sie sich nicht ganz leugnen.
Mit seinen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenen Filmen hatte sich Ozu als genauer, aber nie urteilender Chronist einer Zeitenwende etabliert. Seine ruhig dahinfließenden Familienmelodramen erzählen vom Einbruch westlicher Vorstellungen und Ideale in ein noch traditionell geprägtes Japan. Die großen Familien, die mehrere Generationen unter einem gemeinsamen Dach vereint haben, beginnen zu zerbrechen. Die Eltern bleiben zurück, während die Kinder eigene Wege gehen. Ozus Bedauern über diese Entwicklungen ist allgegenwärtig in den Bildern seiner Filme, die sich dennoch nie gegen den Lauf der Zeit stellen. Etwas von dieser Gelassenheit ist auch in Kore-edas Werken zu spüren. »I Wish« beschreibt zwar den fast schon verzweifelten Versuch eines Kindes, die Trennung der Eltern rückgängig zu machen. Aber am Ende wünscht sich Koichi doch etwas ganz anderes.
Wie Ozu wird Kore-eda von der Frage umgetrieben, was Familien ausmacht, was sie zusammenhält oder auseinanderreißt. Nur haben sich die einst so festen Strukturen der japanischen Familie in den gut 50 Jahren seit Ozus Tod noch viel weiter aufgelöst. Heute sind es nicht nur die erwachsenen Kinder, die ihre Eltern verlassen und ihr Glück in den Großstädten suchen. Die Paare selbst zerbrechen. Zurück bleiben einsame Kinder wie Koichi oder wie die Geschwister aus »Nobody Knows«, die von ihrer alleinerziehenden Mutter Keiko wieder und wieder in einem kleinen Tokioter Appartement zurückgelassen werden. Die Verantwortung liegt bei dem zwölfjährigen Akira, dem Ältesten: Er muss seine beiden Schwestern und seinen kleinen Bruder mit dem Geld, das ihre Mutter ihm anvertraut, irgendwie durchbringen.
In fast dokumentarischen Bildern, die Erinnerungen an Hirokazu Kore-edas Anfänge als Dokumentarregisseur für die unabhängige TV-Produktionsgesellschaft TV Man Union wecken, folgt »Nobody Knows« den Kindern über den Zeitraum von fast einem Jahr. Was beinahe wie ein Abenteuer beginnt, entwickelt sich zu einem täglichen Kampf ums Überleben. Denn die Nachbarn, vor allem aber die Vermieterin, dürfen nicht merken, dass Keiko ihre Kinder, von denen sie drei sowieso schon verheimlicht hatte, alleingelassen hat. Wie später in »I Wish« lässt Kore-eda auch den Kinderdarstellerinnen und -darstellern in »Nobody Knows« jede erdenkliche Freiheit. Er und sein Kameramann bleiben meist ein wenig auf Distanz, so dass die Kinder sie selbst sein können. Akira und seine Geschwister geraten zwangsläufig in eine Spirale des Niedergangs und der Verwahrlosung. Aber sie trotzen ihrer hoffnungslosen Situation Momente des Glücks ab.
Die Geschichte von Akira und seinen Geschwistern nähert sich ähnlich wie Kore-edas neuer, in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneter Film »Shoplifters« dem filmischen Universum von Ken Loach an. Wie der Brite zeichnet er ein erschütterndes Bild der sozialen Verhältnisse in seiner Heimat. Aber anders als Loach agitiert Kore-eda sein Publikum nicht. Er überlässt es dem Betrachter, Schlüsse aus den Bildern der gegen Hunger und Vereinsamung kämpfenden Kinder zu ziehen.
»Nobody Knows« und »Shoplifters« beschwören den Eindruck sozialer Kälte auf subtile Weise herauf und zeigen zugleich Momente einer bemerkenswerten Solidarität. So versorgt ein Angestellter eines Lebensmittelgeschäftes Akira mit abgelaufenen Waren. In einem äußerst ergreifenden Moment seines neuen Films versteht man plötzlich, dass der alte Ladenbesitzer über die kleinen Diebstähle von Shota und seinem Vater Osamu Shibata Bescheid weiß, sie aber aus Mitgefühl gewähren ließ. In den tristen Alltag der Verlassenen und Ausgegrenzten mischen sich magische Momente, in denen ein anderes Japan aufscheint.
Rich Man, Poor Man
Die Zerrissenheit der japanischen Gesellschaft offenbart sich in allen Filmen Kore-edas. Doch meist deutet er die Bruchlinien nur an. Insofern nimmt »Like Father, Like Son« (2013), in dem zwei Familien erfahren, dass ihre Söhne kurz nach deren Geburt im Krankenhaus vertauscht wurden, eine Sonderstellung in seinem Werk ein. Die beiden Paare, die sechs Jahre lang das Kind der anderen aufgezogen und als ihr eigenes betrachtet haben, stammen aus höchst unterschiedlichen sozialen Milieus. Der erfolgreiche Architekt Ryota Nonomiya lebt mit seiner Frau Midori in einem Luxusappartement und ist fast ständig im Büro. Für ihn zählen nur Karriere und Geld. Entsprechend hoch sind seine Erwartungen und Anforderungen an seinen Sohn Keita. Während Ryota dauernd abwesend ist und kaum etwas gemeinsam mit seinem Jungen unternimmt, kümmert sich Yudai Saiki, der ein kleines Elektrogeschäft besitzt und gerade eben über die Runden kommt, rührend um seinen sechsjährigen Sohn und dessen jüngere Geschwister.
Die Mitteilung, dass ihre Söhne vor sechs Jahren vertauscht wurden, konfrontiert die beiden Familien nicht nur mit einem persönlichen Dilemma: Sollen sie die Jungen austauschen und ein gewachsenes Band zerreißen oder soll alles bleiben, wie es war? Die Begegnung mit der jeweils anderen Familie provoziert auch einen Clash der Schichten. Die beiden Enden des Spektrums der Mittelschicht stehen sich zunächst unversöhnlich gegenüber. Ryota blickt auf Yudai und dessen Familie herab und will seinen leiblichen Sohn aus den Fängen des Prekariats retten. Er ist sicher, dass er mit Geld alles regeln kann und zerstört so beinahe seine Familie. Die Deutlichkeit, mit der Kore-eda das fast schon zu einer Ideologie erhobene Erfolgsdenken der japanischen Gesellschaft als Irrweg zeigt, überrascht etwas. Dennoch klagt er Ryota nicht an. Er lenkt so nur den Blick auf die zentrale Fragestellung des Films, auf die schon der internationale Titel hinweist: »Like Father, Like Son«. Ist es das Blut, das Kinder mit ihren Eltern verbindet? Das wäre die traditionelle Sichtweise, die Ryotas Vater vertritt. Oder ist es die Zeit, die sie gemeinsam verbringen? In dem einen Fall wäre Keito nicht Ryotas Sohn, in dem anderen könnte er es zumindest sein. Allerdings stellt sich der Architekt ausgerechnet in dieser Frage auf die Seite seines Vaters, dessen Einfluss er ansonsten mit aller Macht entkommen will. Ryotas ganze Karriere ist eigentlich nur ein Aufbegehren gegen den Vater und der Versuch, dessen Welt hinter sich zu lassen. Dass er dessen traditionelle Ansichten über die Bedeutung leiblicher Verwandtschaft übernimmt, ist zugleich ein Beweis dafür, dass soziale Bande ein Kind stärker formen als das Blut. Die Art, in der er sozialisiert wurde, hat Ryota erst zu dem Mann gemacht, der er nun ist. Eine Ironie, die direkt ins Zentrums von Kore-edas Œuvre führt.
Unerreichbare Väter
Kore-eda stellt zwar oft Väter in den Mittelpunkt seiner Erzählungen. Dennoch ist sein Kino eines der abwesenden Vaterfiguren. Männer wie der Architekt Ryota und der als Privatdetektiv arbeitende Schriftsteller gleichen Namens, der in »After the Storm« (2016) versucht, wieder mit seiner Ex-Frau zusammenzukommen, erweisen sich ihren Söhnen gegenüber immer wieder als extrem unzuverlässig. Im Prinzip fehlt ihnen die Reife für die Vaterschaft. Selbst wenn sie sich wie die beiden Ryotas von den Fehlern ihrer eigenen Väter absetzen wollen, wiederholen sie sie doch nur. Der gescheiterte Schriftsteller Ryota ist wie sein mittlerweile verstorbener Vater spielsüchtig, und natürlich wird er seinem Sohn schließlich Lotterielose kaufen. Das, was sie in ihrer Kindheit erlebt haben, prägt die Männer in Kore-edas Filmen; zerbrochene Familien bringen nichts als zerbrechende Familien hervor. Aber so müsste es nicht sein. In dem Augenblick, in dem Familie nicht mehr nur eine Frage der Blutsverwandtschaft ist, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten.
In »Maboroshi – Das Licht der Illusion«, Kore-edas 1995 uraufgeführtem Spielfilmdebüt, heiratet die junge Witwe Yumiko einen etwas älteren Witwer. Die arrangierte Ehe ist zunächst eine Zweckgemeinschaft. Er braucht eine neue Mutter für seine kleine Tochter; sie und ihr Sohn brauchen wiederum einen Versorger. Aus diesem Arrangement erwächst eine Familie, die sich als erstaunlich stabil erweist. Im zweiten Mann seiner Mutter findet Yumikos kleiner Sohn den Vater, den er nie hatte. Sein leiblicher Vater hatte sich kurz nach seiner Geburt das Leben genommen und eine Lücke gerissen, in der auch Yumiko zu verschwinden droht. Ihre innere Abwesenheit birgt Risiken für die neue Familie. In distanziert kühlen, sehr exakt komponierten Bildern erschafft Kore-eda das Porträt einer Frau, die sich nicht lösen kann: Yumiko denkt ständig an ihren ersten Mann. Die Vergangenheit ist für sie ebenso wie für Ryota in »After the Storm« ein lähmendes Gift. Aber die Hoffnung, dass Yumiko zurück ins wirkliche Leben findet, bleibt. Sie liegt schon in den Bildkompositionen, die Yumiko immer wieder ins Licht stellen und durch geschickte Rahmungen Auswege andeuten. Auch im Verhältnis der Stiefgeschwister untereinander und zum Vater deutet sich die Chance einer glücklicheren Zukunft an.
Neben der Familie ist die Macht der Erinnerungen das zweite große wiederkehrende Thema in Hirokazu Kore-edas Filmen. Außer der plötzlich zum Leben erwachten Sexpuppe Nozomi in der Manga-Verfilmung »Air Doll – Kûki ningyô« (2009), die keinerlei Erinnerungen hat und in einer ewigen Gegenwart von Sehnsucht und Missverständnissen lebt, kämpfen Kore-edas Protagonisten fortwährend mit ihrer Vergangenheit. Sie sind entweder wie die Witwe Yukimo Gefangene ihrer Erinnerungen oder stehen wie der im Schwertkampf nicht sonderlich talentierte Samurai Soza in »Hana« (2006), Kore-edas bisher einzigem Historienfilm, im Bann familiärer Erwartungen. Soza soll den Tod seines Vaters rächen. Dabei liegen ihm Gedanken an Rache und Gewalt gänzlich fern. Erst als er sich in einem Armenviertel von Edo, wo er den Mörder seines Vaters vermutet, mit einem vaterlosen Jungen anfreundet und sich in dessen verwitwete Mutter verliebt, eröffnet sich Soza eine Möglichkeit, sich aus den Fesseln der Vergangenheit zu befreien.
Blick ins Offene
In gewisser Weise ähnelt Kore-eda seinem untypischen Helden Soza, der im frühen 18. Jahrhundert eben nicht den Weg des Samurais geht. »Hana« verweist zwar auf die in Japan zur Legende gewordene Geschichte der 47 Ronin, die im Jahr 1703 den Tod ihres Herren gerächt haben. Aber anders als etwa Kenji Mizoguchi, der die berühmte historische Begebenheit in seinem zum Klassiker gewordenen Film Die »47 Samurai« (1941/42) in ein nationales Epos über Heldentum und Ehre verwandelt, unterläuft Kore-eda jede Samurai-Romantik. Statt der Rache und damit dem Tod zu huldigen, feiert er das Leben, indem er Soza vom Samurai zum Schauspieler werden lässt. So kann er sich seiner zerstörerischen Verpflichtung entledigen und zugleich den Bewohnern des Viertels helfen, die vertrieben werden sollen. Statt für Vergangenes zu sterben, entscheidet er sich für ein Leben in der Gegenwart, und dazu gehört eine Familie, die von Wahl- statt von Blutsverwandtschaften geprägt ist.
Eben diese Idee hat Hirokazu Kore-eda nicht mehr losgelassen. Seit »Hana« hat er in seinen Filmen die klassische Vorstellung von Familie immer weiter dekonstruiert und sie wie in »Unsere kleine Schwester« (2015), seinem bisher hoffnungsvollsten Film, in dem drei erwachsene Schwestern nach dem Tod des Vaters ihre minderjährige Halbschwester aufnehmen, und in »Shoplifters« durch alternative Modelle ersetzt. Seine scheinbar beiläufige, tatsächlich aber präzise durchkomponierte Art der Inszenierung verleiht seinen Filmen den Anstrich typischer Familienmelodramen. Darin ähneln sie den auch eher unauffällig in Szene gesetzten Werken Mikio Naruses. Nur konnten Naruses meist weibliche Hauptfiguren nie auf Erlösung hoffen. Ihr ganzes Sein war ein endloses, vergebliches Ringen mit den Widrigkeiten des Lebens. Diese rein materialistische Sicht der Dinge teilt Kore-eda nicht. In seinen Bildern und Geschichten bleibt Raum für die kleinen Wunder des Alltäglichen, die sich wie in »Unsere kleine Schwester« in einer Geste des Verzeihens oder im Glück eines gemeinsamen Nachmittags am Strand in »Shoplifters« offenbaren können. Die kalte Wirklichkeit der atomisierten Gesellschaft, die Kore-eda so eindrucksvoll nachzeichnet, lässt sich in der Gemeinschaft selbst erwählter Familien überwinden.
Vier von Hirokazu Kore-edas Spielfilmen, »Maboroshi – Das Licht der Illusion«, »Nobody Knows«, »Hana« und »Still Walking«, sind in Deutschland über Kairos Film (shop.kairosfilm.de) auf DVD erhältlich. »Unsere kleine Schwester« wurde von Pandora auf DVD veröffentlicht.
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