DVD-Tipp: »Wolfkin«

Es beginnt mit ­einem Blick ins nicht jugendfreie Paradies: Die Sonne lacht, die Vögel zwitschern, Schmetterlinge flattern über eine grüne Wiese am Rande eines Tümpelchens, auf der zwei Nackige Liebe machen. So, denkt man im Stillen, wird ein Glückskind gezeugt. Dann aber verschwindet der Mann im Wald, und die Frau muss den Buben allein aufziehen.

Die eigentliche Handlung von Jacques Molitors »Wolfkin« setzt ein, als sich bei dem zehnjährigen Martin die Pubertät anbahnt und er weit über das in dieser Entwicklungsphase übliche Maß hinaus verhaltensauffällig wird. Schließlich weiß seine Mutter nicht mehr weiter und macht sich mitsamt Sprössling auf den Weg zur stinkreichen Familie des abgängigen Vaters, die sich nun gefälligst (mit)kümmern soll. Ein ziemlicher Klassensprung: hier Mutter Elaine, blondiert, billige Klamotten, Job in irgendeiner Burgerbraterei; dort Großmutter Adrienne, Kostüm in Pastellfarben, Perlenkette. Doch überraschenderweise wird die arme Verwandtschaft mit offenen Armen empfangen und sogleich in das rigide, hierarchische, nach Geschlechtern getrennte, (selbst)disziplinarische Regime eingegliedert, in dem die Sippe – oder sollten wir besser sagen: das Rudel? – organisiert ist.

Den »Wolf« trägt diese einfallsreiche luxemburgisch-belgische Koproduktion nicht umsonst im Titel. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf: Die Konsequenz, mit der die Metapher hier zu Ende gedacht wird, vermag zu bestürzen. Denn die Familie lebt nach dem Motto »Wir zeigen nicht, wer wir sind. Wir essen, was wir werden wollen.« Eine Ansage, die eine B-Picture-angemessene Eskalation mit sich bringt, im Zuge derer kein Stein mehr auf dem anderen und auch kein Auge trocken bleibt. So wird dem Raubtier die Menschenmaske abgerissen, damit dahinter der Raubtiercharakter des Menschen sichtbar werden kann. Und aus dem Vertreter eines altehrwürdigen Genres schält sich ein sehr gegenwärtiger gesellschaftskritischer Kommentar.

Wolfkin L/B 2022. R: Jacques Molitor. Da: Louise Manteau, Victor Dieu, MarjaLeena Junker. Anbieter: Tiberius.
VÖ: 3. November 2023

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