Interview: Lola Quivoron über »Rodeo«
Lola Quivoron. © Plaion Pictures
Frau Quivoron, Sie selbst sagen über »Rodeo«, er sei nicht realistisch, sondern surrealistisch. Wie meinen Sie das?
Anders als es vermutlich zunächst klingt. Mir war es bei diesem Film wichtig, so nah wie möglich heranzukommen an die Wahrheit der Figuren und vor allem so intensiv wie möglich die Energie einzufangen, die in dieser Welt der Motocross- und Motorrad-Rennen herrscht. Ich wollte so realistisch wie irgend möglich sein, ohne dass es mir um ein bloßes Abbild des echten Lebens ging. Denn naturalistische Filme langweilen mich in der Regel. Stattdessen wollte ich so nah ran, dass wir den Realismus hinter uns lassen und die Sache irgendwie über-natürlich wird. Dann wird es doch erst wirklich interessant.
Das müssen Sie noch ein wenig erklären . . .
Ich wollte weiter gehen als in meinem dokumentarischen Kurzfilm »Au loin, Baltimore«, in dem ich auch schon diese Welt gezeigt hatte. Noch näher ran, alles noch größer machen, die Bilder, die Farben, die Nahaufnahmen. Diese Nähe und Körperlichkeit, bei der man die Poren der Haut sehen kann, das ist für mich Kino. Denn wenn ich in einem Film nicht etwas erleben kann, was sich von meinen Alltagserfahrungen unterscheidet, was ist dann der Punkt? Der surrealistische Einschlag und die gelegentliche Nähe zum Fantasy-Genre, die in »Rodeo« spürbar sind, passen für mich auch gut zu meiner Protagonistin. Sie ist jemand, die sich hybride zwischen Realität und Traum bewegt, zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit, und diesem Gefühl von Transzendenz und Spiritualität musste der Film unbedingt gerecht werden.
Wie sind Sie mit dieser illegalen Motorrad-Renn-Szene in Berührung gekommen?
Das war 2015, als ich noch mitten in meinem Regiestudium war. Ich suchte Anschluss in dieser Gemeinschaft, nicht weil ich selbst unbedingt Rennen fahren wollte, sondern weil mich dieses Freiheitsgefühl und vor allem das Gefühl von Kameradschaft begeisterten. Auch weil der Unterschied zu meinem Alltag im engen Paris kaum größer hätte sein können. Ich habe viel Zeit mit diesen Jungs verbracht, wir sind herumgereist und haben Grillpartys veranstaltet. Frauen waren auch dabei, aber praktisch nie als Fahrerin, sondern immer nur als Begleitung. Eines Tages sah ich auch mal ein Mädchen mit eigenem Bike, die mindestens so aggressiv fuhr und auftrat wie die Jungs. Zwei oder drei Mal war sie dabei, dann wieder verschwunden. Aber meine Fantasie war in Gang gesetzt.
Auch Julie Ledru, die die Hauptrolle spielt, ist keine professionelle Schauspielerin, sondern stammt aus dieser Motorrad-Welt . . .
Richtig, ich entdeckte sie auf Instagram, als ich gezielt nach weiblichen Motorradfahrerinnen suchte. Sie ließ sich auf ein Treffen ein, und irgendwie war unsere erste Begegnung wie ein kleines Wunder. Wir redeten stundenlang und hatten wirklich eine Wellenlänge. Ich erkannte mich selbst in ihr wieder, in ihrer Einsamkeit und ihrer Wut. Wir haben uns dann über einen langen Zeitraum immer wieder ausgetauscht, und ich habe vieles, was sie mir über sich selbst verraten hat, in das Drehbuch einfließen lassen.
Ist die Figur Julia im Film also vor allem eine Art Alter Ego von Julie? Oder auch von Ihnen?
Die Inspirationen für diese Figur sind sehr vielfältig, worauf ich auch bewusst geachtet habe, denn das Letzte, was ich wollte, war eine Heldin, die irgendwie langweilig und eindimensional, womöglich eine Karikatur ist. Julie und ihre persönlichen Erfahrungen haben dem Skript natürlich einen großen Stempel aufgedrückt, aber genauso speist es sich auch aus meiner Sicht auf die Welt, den Texten, die mich beeinflussen, und meinem Selbstverständnis als Transfeministin und nicht-binärem Menschen, der von der Welt immer zunächst als Frau begriffen wird.
Daher die von Ihnen schon erwähnte Hybridität der Figur . . .
Genau. Die verdankt sich nicht zuletzt meiner Lektüre von »Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs« des spanischen Queer-Theoretikers Paul B. Preciado. Durch dieses Buch habe ich begriffen, dass ich nicht einfach Frau oder Mann bin, sondern eine fluide Person. Oder besser: eine Energie. Das war etwas, was ich – auch im Sinne des besagten Freiheitsgefühls – meiner Heldin Julia auf jeden Fall mitgeben wollte.
Apropos Freiheitsgefühl: Sind Sie selbst denn je mit einem dieser Motorräder gefahren?
Ich empfand es als meine Verpflichtung, das zu tun, um die Geschichte erzählen zu können. Diese Geschwindigkeit wollte ich mal spüren, all das Adrenalin, was da ausgeschüttet wird, aber auch das enorme Gefühl der Verletzlichkeit. Denn diese Dinger bestehen ja aus kaum mehr als allerlei Plastikteilen und einem echt starken Motor, was sie unglaublich gefährlich macht. Und ja, ich weiß jetzt, warum man süchtig wird nach diesem Nervenkitzel.
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